Spurensuche - Leseprobe

Kapitel 3: Im Outback

Der vierte Tag, und noch immer haben wir keine Menschenseele gesehen. Ich fange an mich zu wundern. Da waren doch die beiden Geländewagen in Wiluna an der Tankstelle. Einer der Fahrer rief uns zum Abschied fröhlich zu: »See yaa at Well 5 tomorrow.« Daraus schöpften Jörg und ich die Hoffnung, dass die ersten Kilometer auf der Canning nicht allzu schwer sein dürften. Well 5 ist schließlich 200 Kilometer von Wiluna entfernt. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die Jungs in ihren Allradautos haken die Strecke Wiluna – Well 5 an einem Tag ab, und wir stolpern nun schon den vierten Tag durch den Busch und haben diesen Brunnen immer noch nicht erreicht. Irgendetwas stimmt da nicht. Verdammt! Sind wir denn wirklich so langsam? Ich verstehe das nicht. Und bekomme gleich die Quittung für meinen Ausflug in die Welt der Gedanken. Denn Grübeln und Fahren – das passt nicht in diese Gegend. Das Vorderrad fädelt in einer Spurrille ein, und schon ist es geschehen: Die BMW begibt sich in die Horizontale. Kaum der Rede wert, denn mittlerweile haben wir mit derartigen Schräglagen schon einige Erfahrungen gemacht. Er ist schon fast zur Tradition geworden, der »daily crash«.
Nerviger ist schon eher das Ab- und Aufpacken des Gepäcks, um die Fuhre wieder aufstellen zu können. Jörg ist längst hinter den nächsten Büschen verschwunden, und ich stehe mal wieder alleine da. Füge mich dem Unvermeidlichen, schaffe das ganze Zeug auf den Boden, hebe das Motorrad auf und schnalle danach alles wieder fest.
Fertig. Jetzt taucht auch Jörg auf. Er versteht es, im richtigen Moment zu erscheinen. In einer Wolke von Staub kommt er zum Stehen. Die Unterhaltung fällt wie üblich in diesen Fällen knapp aus. »Was war?« »Das Übliche.« »Wieder ein Termitenhügel?« »Nein, diesmal eine Spurrille.« »Hmmh.« Und weiter geht es.
Well 4B lassen wir aus und fahren daran vorbei. Viel ist von diesem Brunnen ohnehin nicht zu sehen. Die Piste bleibt weiterhin gut. Dann und wann ein paar Bodenwellen, ansonsten ist dieses Teilstück ein wahrer Genuss. Nicht einmal Mittag, und wir erreichen Well 5 (25° 22’ 36’’ Süd, 121° 00’ 16’’ Ost). 30 Kilometer liegen hinter uns – das riecht nach Rekord. Die viel wichtigere Frage lautet jedoch: Was ist mit dem Wasser? Well 5 wurde erst im letzten Jahr restauriert und müsste eigentlich gutes Wasser führen. Wir sind gespannt. Als wir die Klappe öffnen, schlägt uns zumindest kein brackiger Geruch entgegen. Das Glück wird uns doch nicht hold sein? Genaueres lässt sich erst sagen, wenn wir das Wasser aus 30 Meter Tiefe ans Tageslicht geschafft haben.
Well 5 ist der tiefste Brunnen auf der gesamten Viehtreiber-Route und das Wasserschöpfen eine ganz schöne Plackerei. Allein der Schöpfbehälter, dem Original aus vernieteten Stahlplatten nachempfunden, wiegt leer 20 Kilogramm. Da er 40 Liter fasst, müssen an die 60 Kilogramm Masse aus dem finsteren Schacht hochgekurbelt werden.
Wir können uns gut vorstellen, wie Cannings Männer beim Bau dieses Brunnens schufteten. Mehr als 100 Tonnen Erdreich mussten sie mit Schaufeln und bloßen Händen bewegen. Auch die Mitglieder des australischen Offroad Clubs, die Well 5 im Jahr 2004 restaurierten, dürften ordentlich gerackert haben. Die Mühe lohnte sich letztendlich. Denn wie wir erleichtert feststellen, ist das Wasser von guter Qualität. Im Geschmack ein wenig erdig, aber sonst ganz passabel. Wir füllen die Wassersäcke bis zum Rand.
Well 5 lüftet auch das Geheimnis der so unglaublich schnellen Geländewagen: Die Allradler haben eine Abkürzung genommen. Eine Wegmarkierung mit Hinweisschild bringt Klarheit in das Mysterium. Der »Short cut« führt über die Granite Peak Station und spart mindestens zwei Tage. Nicht weil er sehr viel kürzer ist als die Originalstrecke, sondern weil man ihn für Outbackverhältnisse als Autobahn bezeichnen kann. Auf dem festen Untergrund können die 4WDs mächtig Gas geben. Müssen aber auch die 20 Dollar Gebühr abdrücken, die der Verwalter der Ranch für die Benutzung verlangt. So beginnt für die meisten Australier die richtige Canning Stock Route erst dort, wo man das Farmland hinter sich lässt und ins Outback vorstößt. Jörg und ich hingegen wollen den ganzen »Spaß« haben. Die CSR, diesen ultimativen Track, vom ersten bis zum letzten Meter genießen.
Mit jeweils 20 Kilogramm mehr Gewicht am Heck machen wir uns auf den Weg. 20 Kilogramm, die das ohnehin nicht gerade einfache Handling der Maschinen keineswegs verbessern. »Fahrspaßbremsen entlüften« – diese Worte werden von nun an zu einer geflügelten Redensart, wenn wir unsere Wasservorräte auffüllen.

Ohne Zwischenfall erreichen wir nach 20 Kilometern Well 6 (25° 14’ 27’’ Süd, 121° 05’ 58’’ Ost). Donnerwetter – wir stehen knapp davor, unsere kilometrische Bestmarke zu überbieten. Heute läuft es wie geschmiert. Wir sind also doch nicht so langsam, wie ich befürchtete.
Well 6 wird auch Pierre Springs genannt und wartet mit einer Überraschung auf: Die Wasserqualität ist noch besser als an Well 5. Frisch und kühl ist das Nass. Kristallklar und ohne erdigen Geschmack. Natürlich tauschen wir sofort unser Trinkwasser aus.
Pierre Springs erweist sich als gemütliches, schattiges Plätzchen. John Forrest, der 1874 diesen stillen und friedlichen Ort entdeckte, muss ihn geliebt haben. Riesige Eukalypten umsäumen den heutigen Brunnen, der Wind streicht durch ihre Blätter. Forrest benannte die Quelle nach seinem zweiten Aborigine-Scout, Tommy Pierre. Ursprünglich lag die Wasserstelle 250 Meter weiter südlich, doch nach einem Zyklon versandete sie. Vor uns erhebt sich Mount Davis 700 Meter hoch in den Wüstenhimmel. Streng genommen ein Hügel, hier im Outback jedoch ein Gigant.
Knapp zehn Kilometer weiter erklimmen wir die erste Düne. Klein und nur ein Vorgeschmack dessen, was da draußen noch an Sandbergen auf uns wartet. Kurz darauf stehen wir am Abzweig zu Brunnen Nr. 7, der 150 Meter neben der Piste steht (25° 09’ 29’’ Süd, 121° 17’ 26’’ Ost). Oder besser gesagt: liegt. Denn es gibt nicht mehr viel, was daran erinnert, dass hier einmal 750 Liter Wasser pro Stunde ans Tageslicht gefördert werden konnten. Nur ein paar Holzreste liegen im Schatten der Mulgabüsche. Sie haben über Jahrzehnte dem Verfall getrotzt, doch nun sind sie im Endstadium ihrer Existenz. Ihr Schicksal ist besiegelt. Die Überreste sind eine willkommene Nahrungsergänzung für Termiten.
An Well 8 sieht es nicht besser aus (25° 06’ 22’’ Süd, 121° 23’ 13’’). Auch hier sind die kümmerlichen Überbleibsel aus der Vergangenheit eine schwache Erinnerung daran, dass dieser 18 Meter tiefe Brunnen einmal bis zu 2.500 Liter Wasser lieferte. Also abhaken und weiter. Ehrgeiz liegt in der Luft. Jörg und ich wollen heute die 100-Kilometer-Marke knacken, und die Chancen stehen nicht schlecht. Vielleicht schaffen wir es sogar bis Well 9.
Wir gönnen uns kaum Pausen. Zirkeln die Motorräder vorbei an Büschen, Baumstümpfen und Termitenhügeln. Der Blick ist immer auf den Track gerichtet. Der gibt sich widerspenstig, selten gelingt es mir, die Tachoanzeige über 25 Stundenkilometer zu treiben. Oft geht es über mehrere hundert Meter sogar nur im Schneckentempo voran. Weiter, weiter. In der Hektik verfahren wir uns, nehmen einen falschen Abzweig und stehen plötzlich vor einem Loch im Boden, dem Canning Bore. Ein riesiges Windrad zieht hier das Wasser aus der Erde. Der Weg verliert sich im Nichts. Einige Rinder, die sich um eine Viehtränke geschart haben, galoppieren davon. Die Tiere wissen genau, was ein Motorrad ist und was sie davon zu erwarten haben. Hier draußen benützen die Cowboys kleine wendige Enduros, um ihre Herden zusammenzutreiben.
Kaum hat sich die Aufregung gelegt, dringt ein Geräusch an unsere Ohren, das wir schon seit Tagen nicht mehr gehört haben: Kein Zweifel, ein Fahrzeug, und es kommt näher. Auf einmal quetscht sich ein bulliger Geländewagen durch das Gebüsch. Voll beladen, die Federung hängt ziemlich in den Knien. Zwei ältere Herren und eine Frau steigen aus. Die Begrüßung fällt australisch herzlich aus: »Hey yaa doing, mate«, schütteln sie uns die Hände. Marilyn, Colin und Robert folgen unserer Fährte seit Wiluna. Sie brachen einen Tag nach uns auf und rätseln seitdem über die seltsamen Spuren auf dem Track. Auch sie haben offensichtlich den falschen Abzweig erwischt. Nun stehen wir an diesem Wasserloch und studieren von Kuhfladen umgeben die Karte. Reden über Windich Springs und über die Wasserqualität der einzelnen Brunnen. Dabei nerven Millionen von Fliegen, die in den Verdauungsextrakten der Rinder ein Zuhause gefunden haben. Ein ungemütlicher Ort, und so ist der Erfahrungsaustausch über die bisherige Strecke nur von kurzer Dauer.
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zurück zur Canning. Kaum ist die erreicht, sehen wir nur noch die Staubwolke von Colins Auto. Sie sind eben doch etwas schneller unterwegs als wir, diese Allradler.

Laut Karte sind es noch 16 Kilometer bis zu unserem gesteckten Ziel und nur noch zwei Kilometer bis zur 100-Kilometer-Marke. Viel Zeit bleibt allerdings nicht, bis die Sonne auf den Horizont trifft. In gut einer Stunde ist es Dunkel. Wird das reichen? Es reicht. Die Canning zeigt sich gnädig, als wolle sie unsere heutigen Anstrengungen belohnen. Wir kommen gut voran und erreichen noch bei Tageslicht Well 9 (25° 01’ 06’’ Süd, 121° 36’ 11’’ Ost): Ein Wasserfass, ein Windrad und ein Viehgatter. Sie stehen dort wie ein letztes Mahnmal der Zivilisation. Eine kurze Piste führt von hier zur Glen Ayle Station. Die letzte Möglichkeit, aus der Canning auszusteigen. Die nächste besteht erst wieder an Well 23. Knapp 300 Kilometer liegen nun hinter uns. Mir kommt diese Strecke unendlich vor. 1.700 Kilometer stehen noch an. Am besten nicht darüber nachdenken.
Wir schlagen unser Zelt etwas abseits des Brunnens auf. Denn die Eigentümer der Glen Ayle Station schätzen es nicht, wenn man zu nahe am Wasserloch nächtigt. Ein großes Schild am Viehgatter fordert den Reisenden auf, gebührenden Abstand zu halten, da sonst die Tiere nicht zur Tränke kommen.
Es ist schon Dunkel, als endlich das Feuer brennt und das Wasser für die »2 Minute Noodles« kocht. Ein eisiger Wind weht über das Buschland. Es ist bitterkalt. Erschöpft aber zufrieden hocken wir vor den Flammen und beobachten, wie der letzte Lichtsaum hinter dem Horizont verschwindet. Nun ist es stockfinster. Das Licht des kleinen Feuers leuchtet einige Meter weit, dahinter verschwindet alles in der Dunkelheit.

 

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