Tausche Bürostuhl gegen Motorradsattel - Leseprobe

Kapitel 3: Unterwegs

Am 16. Juni um 10.00 Uhr verlasse ich Hamburg. Es ist ein schwerer Morgen, ich gehe nicht leicht, mir ist nicht wohl, überall schwere Gedanken. An eine vergangene Liebe, an meinen Hund, an mein schönes Zuhause. Ich habe ziemlich den Blues, packe, ziehe die Tür zu, es ist duns?tig und kühl. Die Euphorie dieser Reise ist wie nie gewesen, all das Erreichte plötzlich ohne Wert.
Dann das Motorrad, die Honda steht da, schwarz, schwer und grenzenlos stark. Lacht die mich an? Oder lacht sie mich aus, in meiner kleinkarierten Abschiedsduselei? Und sagt: »Mach schon, fahr los!« Zwei kleine Seitenkoffer, eine Gepäckrolle, ein Tankrucksack. Nicht viel, aber genug für Laptop, Fotogerät, Kleidung und die Landkarten und Bücher. Ich passe noch recht gut dazwischen. Die Lederkombi und die Stiefel sind gefettet, die Handschuhe haben schon bessere Zeiten gesehen. Die Sturmhaube und das Halstuch lassen mich wie einen Verbrecher aussehen. Zuletzt der Sturzhelm, Kinnriemen schließen.
Ungläubiges Innehalten. Ja, jetzt ist es wohl so weit: Der Zündschlüssel dreht sich im Schloss, die Elektronik summt, das Mäusekino im Cockpit zählt von 299 km/h runter auf null und signalisiert o.k. Der Druck auf den Starterknopf. Der große Motor springt leise an, säuselt ein bisschen holperig, wie vor dem Zähneputzen und noch ungewaschen. Ich kann es mir nicht verkneifen und lasse den Motor kurz Fauchen. Nicht zu laut, kein Brüllen. Nein, kurzes, giftiges Fauchen. Und grinse. Klack, erster Gang, Kupplung kommen lassen.
Das Ganze rollt los, wackelig, zumindest beim Rangieren im Stand. Das Gepäck ist ungewohnt, ich bin sehr aufgeregt, mein Herz schlägt bis zum Hals. Die Karre zieht. Und gar nicht mal schlecht. Raus aus Othmarschen, Elbchaussee, vorbei an Gruner und Jahr, Hammerbrook, Berliner Tor. Hamburg ist schnell Richtung Osten, Richtung A 24 durchquert, schon hunderte Male fuhr ich diesen Weg. Alles scheint wie immer, und doch ist alles anders. Ich drängele nicht im morgendlichen Berufsverkehr. Nutze keine Verkehrslücken, wie ich es sonst immer mache. Keine druckvollen Ampelstarts. Keine Hektik, sondern Kraft, Ruhe und Erwartung.
Um 10.15 Uhr passiere ich die Stadtgrenze, spüre den Druck des Motors, der vom Gepäck völlig unbeeindruckt scheint. In wenigen Sekunden bis an 200 km/h raufbeschleunigt. Ich liebe das verdutzte Gesicht der Autofahrer, die solche Kraftausbrüche nicht erwarten.
Die Reise beginnt kühl, ich ziehe meine Rukka-Jacke über die Lederkombi. Sentimentale Erinnerungen überall. Trittau, Schaalsee, Zarrentin. Die geniale B 195 mit der Alten Fischerkate in Mödlich. An all dem hängen Geschichten, die heute weh tun. Weil ich aufbreche? Wohin und warum ist mir nicht mehr klar. Klar dagegen ist, was und wen ich verlasse.
In einer seltsamen Trance schwebe ich in den schwülen Tag. Gewitter liegen in der Luft. In Havelberg tanke ich dieses neue Benzin, mit dem man angeblich einen geringeren Verbrauch hat. Und esse gleich zu Mittag in der Shell-Tankstelle. Die Leute lachen über mich in meinem schwar?zen Leder plus meiner Überjacke bei mittlerweile schwülen 29 Grad. Von meinen langen Unterhosen wissen die ja nichts. Mein Hexenschuss macht sich langsam wieder bemerkbar. Vorgestern erst weggespritzt, ist die lange Fahrt auf kleinen Straßen heute wohl doch noch ein bisschen viel.
Mein Ziel heute ist Buckow, östlich von Berlin. Ich komme von Westen, die südliche Umgehung von Berlin auf der B 246 sieht auf der Karte reizvoll aus. Und tatsächlich, obwohl offiziell eine Bundesstraße, ist die B 246 eine abwechslungsreiche Landstraße durch Kleinststädte wie Treb?bin, Zossen, Bestensee und Storkow. Nur mit Anstrengung finde ich eine Eisdiele, einen Espresso. Diese mangelnde Infrastruktur ist charmant, ich mag es, wenn die Dinge nicht zu einfach sind. Der Cappuccino in Trebbin kostet in der Bäckerei 90 Cent. »Nehmen Sie doch bitte einen doppelten Espresso mit aufgeschäumter Milch«, lautet mein Wunsch. »So wollte det noch keena haben, warum wollnse det denn nich ausse Tüte?«, fragt die Bäckersfrau. Das Eis gibt’s in der Eisdiele gegenüber, den Kaffee darf ich aber mit rübernehmen. Das Eis ist aus eigener Herstellung, extra cremig. »... schätzense mal, wie viel Sahneanteil ich da nehme?«
Christian, Werbemanager aus Berlin und Studienfreund aus längst vergangenen Westberliner Tagen, erwartet mich in seinem Wochenendhaus am Schermützelsee in Buckow. Ich bin etwas früher da, warte auf Chris, bin verschwitzt, habe Hexenschuss und bin fix und fertig nach zehn Stunden Landstraßenfahrt. Hauptsächlich bin ich aber baff von diesem herrlichen, hügeligen Ort inmitten der Märkischen Schweiz, nur wenige Kilometer entfernt von der Berliner Stadtgrenze. Bis auf 130 Meter über Normalnull erhebt sich der Krugberg, nicht die Alpen, aber immerhin.
Der Abend vergeht vertraut, wir haben uns lange nicht gesehen, haben viel zu erzählen. Der Panoramablick vom Balkon über den herrlichen See inmitten des Waldes. Ruhe über dem Wasser, in den Wäldern und in unseren Gesprächen. Im Kühlschrank ist nur Bier, irgendwann treibt uns der Hunger in den Ort. Eines dieser regionalen Sommerfeste bietet Bratwurst, Fischbrötchen, Musik und noch mehr Bier. Zu später Stunde in einer Open-Air-Disco, mit Matjesbrötchen in der Hand und Flip-Flops an den Füßen, realisieren wir, dass wir die Väter fast aller Anwesenden sein könnten. Die polnische Grenze ist vielleicht dreißig, vierzig Kilometer entfernt. Ich bin unterwegs.

Kapitel 4: Buckow und die Mücken

Wie beginnt man eigentlich eine Motorrad-Tour, wenn man monatelang Zeit hat? Wenn man nicht mehr jeden Moment auf dem Motorrad sitzen muss, weil die Zeit und das gute Wetter begrenzt sind und drängen? Was mache ich eigentlich jetzt, wo alles im Überfluss vorhanden ist? Ich entspanne einfach. Pflege meinen Hexenschuss, essen, spazieren gehen. Von Mücken stechen lassen. Mein rasierter Kopf erweist sich bei Waldspaziergängen als Buffet für ca. eine Million Mücken. Weder Chris noch ich denken an Vorsichtsmaßnahmen. Und bezahlen bitter für unseren Leichtsinn. Wir genießen trotzdem in Ruhe diese Tage, und wenn es juckt, kratzen wir uns eben. Langsam komme ich an in diesem Nirgendwo namens Unterwegs, diesem schwebenden Zustand.
So ein Wochenenddomizil ist für Großstädter, zumal aus Berlin, unbezahlbar. Chris schwärmt, wie er mit seiner Tochter Carla hier Stunden und Tage verbringt und sich nichts Schöneres mehr vorstellen kann. Er liebt seine Tochter. Die Mutter, die schöne Mona, lebt inzwischen mit einem anderen Mann. Sie teilen sich die Erziehung ihrer Tochter.
Viele Geschichten aus dem Leben. Der Tag wird vergammelt, Buckow hat ein Kino, es läuft »Wie im Himmel«, eine skandinavische Produktion. Jeder im Kino weint, ein solch anrührender Film über die Suche nach dem Glück. Zwei hübsche Frauen, denen der Film auch sehr gefallen hat, laden Chris und mich anschließend zu sich nach Hause auf ein Glas Wein ein. Um 23.00 Uhr. Warum wir dankend ablehnen, wissen wir beide nicht so recht.
Das Wochenende plätschert vor sich hin. Das Gepäck ist wieder komplett ausgebreitet und muss ohnehin neu sortiert werden. Packen ist eine Kunst. Chris muss nach Berlin zurück, er hat eine dieser megawichtigen internationalen Präsentationen, die bei mir inzwischen Übelkeit auslösen. Ich glaube, dass Chris diesen Unsinn bald hinschmeißen wird. Es gibt einen Werbespot einer norddeutschen Biermarke, in der ein Dreitagebart sich mit seinem schicken Designer-Mantel in eine Sanddüne fallen lässt, sich über seine fehlenden Termine und fehlenden Meetings freut. Und deswegen soll man dieses, zugegeben gute, Bier kaufen, kaufen, kaufen. Statt die Meetings und Termine wirklich fallen zu lassen! Ich komme ins Schwadronieren. Liegt wohl daran, dass ich inzwischen alleine bin in diesem schönen Haus, meinen Gedanken und Zweifeln nachhänge. Ohne Musik und ohne Fernsehen, ohne Ablenkung.
Gestern, auf unserem großen Mückenspaziergang ins Haus Tornow, hat die Chefin uns einen Kaffee spendiert, als ich von meinem Vorhaben erzählte. In drei Monaten, wenn ich wieder da sei, versprach sie, spendiere sie gerne wieder einen. Vielleicht fände ich ja auch eine Frau und mein Glück bis dahin, sagte sie noch.
Herr Schröder, Journalist aus Frankfurt/Oder, bestätigt unser Treffen in Frankfurt, mein erster Pressetermin ist eingetütet. Die Jugendherberge Bremsdorf hat für die nächsten Tage ein Einzelzimmer für mich. Das letzte Mal, als ich vor Jahren dort war, bestand das Ganze noch aus billigen Bretterhütten, es war eiskalt, die Unterkünfte waren kaum isoliert. Das ist lange Jahre her, ich bin gespannt, wie sich alles verändert hat. Mittlerweile sind es schwüle 30 Grad, morgen geht es früh wieder auf die B 246, diesmal Richtung Süden. Die Honda sieht mich beleidigt an, sie will auf die Landstraße, in die frischen Wälder. Ich habe es nicht eilig. Und beginne entspannt meine mehrmonatige Motorrad-Tour.

 

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