Luther-Tour - Leseprobe

Freiheit. Endlich Freiheit. Kein Telefon, keine To-Do-Liste, kein Chef. Ich sitze allein auf dem Motorrad und genieße die frühe Sonne, die lichtverspielte Allee und den frischen Wind. Endlich Freiheit. Durchatmen. Mal wieder etwas Neues wagen. Nicht immer dieselben Strecken fahren. Der Tag darf sich frei entfalten. Auch ich entfalte mich, lasse die Räder richtig rollen. Hurra, ich bin frei!
Würde meine Frau jetzt diese Ode an die Freiheit hören, würde sie lachen, denn wir haben verabredet, dass ich drei Wochen auf Tour gehe. Drei Wochen frei, der Gedanke ist fantastisch. Sie versorgt Haus und Hof, ich versorge mich; fahre end?lich einmal wieder tage-, nein: wochenlang Motorrad und weiß gar nicht, wie weit ich kommen werde. Denn ich bin frei. Meine Idee ist eine Deutschlandtour. Mal nicht die Alpen oder Pyrenäen, nicht Schweden oder Italien, nicht Autozug oder Autobahn, sondern nur kleine schnuckelige Sträßchen, die ich noch nicht kenne. Die Freiheit beginnt sofort.
Als Orientierung wähle ich die Spuren Martin Luthers, der in Deutschland viel herumkam und dessen Wege durch das ganze Land führten. Außerdem glaube ich, dass der berühmte Reformator Motorrad gefahren wäre, wenn er gekonnt hätte, denn auch ihm war die Freiheit extrem wichtig. Sie fordert Mut und Mobilität. Zwei Werte, die jeder Motorradfahrer kennt. Wie im alltäglichen Leben muss man auch beim Motorradfahren aufbrechen und losfahren, den frischen Wind der Veränderung spüren.
Meine erste Station heißt Stotternheim in Thüringen, mitten in Deutschland. Gefühlte Stunden irre ich bereits bei Affenhitze umher, kein Hinweis schenkt mir eine Eingebung. Eine junge Frau schlendert mir auf dem Bürgersteig entgegen, ich fahre rechts ran und frage: „Können Sie mir den Weg zur Stelle in Stotternheim nennen, an dem damals der Student Luther sein Donnerwetter erlebte?“
Dieses gut gewachsene Fräulein dürfte die These eines Biker-Freundes bestätigen, dass die Frauen im Osten attraktiver sind als die aus dem Westen. Nur spricht sie nicht. Ich bin verunsichert, stelle den Motor der MZ ab, öffne den Klapphelm und wiederhole freundlich meine Frage. „Nö“, kommt als Antwort aus dem rot linierten Schmollmund. Dann schlendert sie lässig und sommerlich leichtbekleidet weiter. Da soll noch einer sagen, wir Norddeutschen seien wortkarg.
Also weitersuchen. Irgendwann erkenne ich in der Ferne eine Hütte, eine Steinsäule und eine Schautafel – das könnte der gesuchte Ort sein. Jetzt aber Gas, denn in meinem Rücken hat sich in den letzten Minuten unbemerkt eine schwarze Wolkenfront angeschlichen. Ich lasse den 24 PS der MZ freien Lauf und komme mit blockierenden Rädern ein paar Meter vor der Hütte zum Stehen. Keine Minute zu spät. Tölpel ist schon aus dem Beiwagen gehüpft, wir sprinten hinüber zur Hütte, und dann öffnet der Himmel seine Schleusen. Es gießt in Strömen, Donner rollen über uns hinweg, Blitze zucken vom Himmel.
Ich kann mir gut vorstellen, wie sich Martin Luther am 2. Juli 1505 fühlte. Denn der große Reformator war damals noch ein kleiner Student der Rechtswissenschaften in Erfurt und zu Fuß auf dem Weg zur Universität. Genau hier an dieser Stelle, auf dieser damals kahlen, baumlosen Wiese westlich des thüringischen Dorfes Stotternheim, erwischte ihn ein gewaltiges Sommergewitter wie dieses. Es muss so schlimm gewesen sein, dass Luther um sein Leben fürchtete, als er sich mangels Schutz flach auf den Boden warf, in Todesangst Hände und Füße in die Erde krallte und schrie und flehte. Dieses Ereignis, diese unvorstellbare Kraft der Natur, diese Macht Gottes, hinterließ bei ihm einen solch tiefen Eindruck, dass er noch im Dreck liegend rief: „Hilf du, Sankt Anna! Ich will ein Mönch werden!“ Konsequent setzte er danach sein Vorhaben in die Tat um, ließ die Rechtswissenschaften sausen und stürzte sich stattdessen in die Theologie.
Wie zugedreht reißt das Sommergewitter auf einmal ab, der Sturm fällt in sich zusammen und die Sonne bricht durch die schwarzen Wolkenmassen, die es für heute gut sein lassen und abziehen. Das Gewitter schickt mir noch ein paar grollende, immer leiser werdende Donner hinterher, dann herrscht Stille. Tölpel springt schwanzwedelnd vor die Hütte und macht vor Freude ein paar Riesensätze. Ich wringe meinen Schal aus und blinzle in die Sonne – hier begann also die Geschichte der Reformation.
Vor der Hütte stehen Bäume, Bänke und der Lutherstein, der an Luthers Donnerwetter an dieser Stelle erinnert. Eine Informationstafel beschreibt die Zusammenhänge und den Weg, den der junge Student damals eingeschlagen hatte. Ein gemütlicher Ort. Wohl auch Treffpunkt ortsansässiger Senioren, denn eine plauschende Männerrunde auf Fahrrädern nähert sich und stellt ihre Fahrzeuge an der Hütte ab. Sofort kommen wir ins Gespräch, fachmännisch wird mein MZ-Gespann begutachtet. Alte Zeiten flackern auf, alte Geschichten werden erzählt. Ich erfahre, wie zur Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik alles im Alltag mit dem Zwei- oder Dreirad erledigt wurde. Auch im Winter. Wie sie getüftelt und gebastelt haben an den Maschinen und an der Kleidung. Eine andere Zeit. Früher eben. Schnell vergeht plaudernd eine halbe Stunde. DDR live, obwohl es sie gar nicht mehr gibt. Dafür gibt es jetzt große Kieskuhlen und eine Mülldeponie in der Umgebung. Auch ein Tierheim und der Tierfriedhof liegen unmittelbar in der Nachbarschaft. Stotternheim gehört mittlerweile zu Erfurt. Dorthin war Luther damals unterwegs, denn er studierte auf Wunsch seines Vaters Jura. Er kam gerade von seinen Eltern aus Mansfeld, die dort in der Nachbarschaft von Martins Geburtsort Eisleben wohnten und arbeiteten, weil der Vater, Hans Luder, eine Kupfermine gepachtet hatte. Der bescheidene familiäre Wohlstand, der durch den Bergbau entstand, wurde in die Bildung des ältesten Sohnes, Martin, investiert. Er sollte es einmal besser haben.
Nahe des Luthersteins wühlen sich schwere Lastwagen durch die Erde in Richtung Mülldeponie und Kieskuhlen. Schnell hat die Sommerhitze den feuchten Boden wieder getrocknet, die Lastwagen wirbeln ordentlich Staub auf. Ich stelle meine Textilkombi auf maximale Belüftung und bin froh, nicht in alter DDR-Motorradbekleidung aus Plasten und Elasten fahren zu müssen. Sonst wäre ich wohl heute wie Luther damals zum kühlen Klosterleben konvertiert.
So fahre ich neugierig weiter, um mir weitere Stationen des großen Reformators Luther anzusehen. Gleich in Stotternheim entdecke ich auf der Hauptstraße ein nettes Café. Da ich angesichts der Temperaturen durstig und aufgrund der historischen Bedeutung des Ortes noch ganz überwältigt bin, nehme ich eine kurze Pause. Der Name des Cafés lautet Schneemilch und klingt vielversprechend erfrischend, sein Flair erinnert mich ein wenig an früher. Tölpel, meine Hündin, die mich auf dieser Reise nach Lutherland begleitet, freut sich nach der vielen Natur am Lutherstein über das gereichte frische Wasser. Ich freue mich über einen Kaffee und einen Becher leckeres Eis – artgerechte Haltung für beide.
Tölpel trägt den Namen des Hundes von Doktor Martin Luther. In den „Tischreden“ erwähnte damals der Hausherr öfter seinen Hund Tölpel. In einer Touristinformation kaufte ich als junger Pfarrer einmal ein kleines Heft, das die Reformationsgeschichte aus der Perspektive des Hundes Luthers zeigte. Begeistert von der tierischen Darstellung und ausgestattet mit lutherischem Selbstbewusstsein, nahm ich mir vor, falls ich jemals einen Hund bekäme, sollte der Tölpel heißen. Der Name war also vor dem Hund da. So taufte ich später meine kleine Hündin ebenfalls Tölpel. Sie nimmt es ganz gelassen und trägt den geschichtsträchtigen Namen ohne Hochmut. Ein echter Pastorenhund.

 

<<< zurück