Nordkap - Leseprobe

Wenig später weist ein Schild am Straßenrand darauf hin, dass das Fjell geöffnet ist. Von November bis Mai ist der Sognefjellsveien, die höchstgelegene Passstraße Nordeuropas, wegen Stürmen und unglaublichen Schneemengen auf ganzer Länge gesperrt. Die Anzeigetafel für die Windgeschwindigkeit zeigt mir harmlose 5 m/s an, das dürften so 20 km/h sein (der exakte Umrechnungsfaktor lautet 3,6), nicht mehr als ein laues Lüftchen nach den Erfahrungen auf dem Hemsedalfjell. Gleich dahinter folgt ein »Kjettingsplass«, ein geteerter Platz neben der Straße. Bebilderte Schilder machen deutlich, dass von nun an für LKW und Wohnwagen-Gespanne Schneeketten empfohlen werden, die man an dieser Stelle aufziehen kann.
Dann geht es hinauf aufs Fjell. In einer endlosen Folge von Spitzkehren und Haarnadelkurven erklimmt die Straße die 1.434 Meter hohe Hochebene. Den höchsten Punkt hat man nach »Fante«, der norwegischen Bezeichnung für Landstreicher, »Fantestein« benannt, weil in früheren Zeiten diese Gegend unsicher war und Reisende oft von Wegelagerern ausgeraubt wurden.
Mit jedem Höhenmeter wird es kälter und nebliger. Die Straße ist nass, daneben geht es oft ungesichert steil bergab. Ich bin mitten in den Wolken, oder ist das einfach nur dichter Nebel? Egal, die Sicht ist jedenfalls äußerst schlecht. Was das Fahren angeht, ist das hier nicht ohne. Man muss höllisch aufpassen, dass man die Straße nicht aus den Augen verliert und bei dem nassen und buckligen Straßenbelag mit seinen vielen Schlaglöchern und Bitumenausbesserungen ist wirkungsvolles Bremsen echte Gefühlssache. Hauptsache, es kommt kein Gegenverkehr in den engen Kehren, das könnte brenzlig werden. Aber ich bin ohnehin weit und breit der Einzige hier oben, glaube ich. Als die Sicht ein wenig besser wird und sich die ersten Schneeverwehungen ein bis zwei Meter hoch neben der Straße auftürmen, mache ich an einer lastwagengroßen, ebenen Fläche einen kurzen Fotostopp. Mein Atem wird in Form von kleinen Nebelschwaden sichtbar und als ich die Handschuhe ausziehe, bemerke ich erst richtig, wie eisekalt es hier oben ist.
Um die Spitzkehre, die ich gerade hinter mir gelassen habe, kommt ein paar Minuten später ein Wohnmobil mit deutschem Kennzeichen angeschnauft. Im Führerhaus sitzt ein Ehepaar ungefähr meines Alters und als sie mich sehen, halten sie an und steigen aus. Zu meiner Überraschung sind es aber keine Landsleute, sondern die beiden kommen aus Holland und sprechen deutsch mit diesem wunderschönen niederländischen Akzent, den ich so gerne höre. Sie fahren regelmäßig nach Norwegen, aber nie weiter nach Norden als wir uns jetzt befinden. Ich wundere mich über ihr deutsches Kennzeichen, aber die Erklärung dafür ist verblüffend einfach: Die Mietpreise für Wohnmobile sind in Deutschland wesentlich günstiger als in Holland, deshalb mieten sie sich immer eines jenseits der Grenze. Sie beschließen, da sie schon mal stehen, eine Kaffeepause einzulegen. Als ich mich langsam an die Weiterfahrt mache, sagen sie, es dauere nicht lange, dann würden sie hinter mir herfahren und könnten zu Hilfe kommen, falls etwas passiert. Na, sehr beruhigend, danke sehr.
Die Schneemassen nehmen immer weiter zu. Jetzt sind die Verwehungen, zwischen denen sich die Straße hindurchwindet, gut und gerne vier, fünf Meter hoch. Lange Bohnenstangen stecken am Straßenrand, um die Fahrbahn zu markieren. Der Wind und die ungeheuren Schneemengen haben sie aber fast alle schräg zur Seite gedrückt oder sogar zerbrochen. Viele enden bereits weit unterhalb der Schneedecke und haben keinen Nutzen mehr. Aber die Straße selbst ist vollkommen schneefrei und verläuft in der Schlucht zwischen den senkrechten Schneewänden. Kaum zu glauben, dass die Strecke in den Jahren 1936 bis 1938 von arbeitslosen Jugendlichen zwangsweise instandgesetzt und umgebaut wurde. Die Ärmsten tun mir leid.
Eine Menge Schmelzwasser läuft über die Fahrbahn, denn nun liegt die Landschaft über den Wolken in strahlendem Sonnenschein, der den Schnee teilweise schmelzen lässt. Es ist auch nicht mehr so kalt. Noch einmal halte ich an und fotografiere das Motorrad vor einer dieser beeindruckenden Schneewände. Schon zu Hause habe ich mir das vorgenommen und gehofft, dass ich auch wirklich Gelegenheit dazu bekommen würde. Die Wahrscheinlichkeit, hier am Rande der beiden großen Nationalparks Jotunheimen und Jostedalsbreen auf Schnee zu stoßen, ist allerdings schon sehr groß.
Als es langsam wieder vom Fjell hinab ins Tal geht, werden die Kurven mehr und enger. In weiten Tälern zwischen den höher liegenden Gebirgen liegt das Asphaltband da wie ein gigantisches graues Kabel, das ein Riese achtlos in die Landschaft geworfen hat. Schier endlos scheint es sich zu ziehen, bis es schließlich irgendwo in der Ferne ganz aus dem Blick entschwindet. Es gibt nichts zu sehen außer einsamer Landschaft. Ein Wahnsinn!
Nachdem ich die Wolkendecke wieder nach unten durchstoßen habe, setzt dieser hartnäckige Regen von Neuem ein. Der Weg ist ziemlich steil geworden und ausgeprägte Spurrillen, schräg zur Seite abfallende Straßenbeläge mit kleinen Wasserläufen quer zur Fahrbahn lassen mich die folgenden Serpentinen talwärts mit großer Vorsicht angehen.
Unten folgt wieder eine entspannende Strecke auf gut ausgebauter Straße, auf der man gemütlich mit der erlaubten Geschwindigkeit dahingleiten und seinen Gedanken nachhängen kann. Apropos Höchstgeschwindigkeit – ich fahre immer ungefähr zehn Prozent darüber, in der Hoffnung, dass sich Tachoabweichung und Toleranz der Messgeräte gerade genug entgegenkommen, damit es kein Knöllchen gibt. Obwohl, bei den norwegischen Preisen für Verkehrsvergehen handelt es sich wohl doch eher um ausgewachsene Knollen. Laut meiner Recherche auf der ADAC-Site beginnen die Bußgelder bei 465 Euro für leichte Verstöße und selbst Gefängnisstrafen können je nach Vergehen verhängt werden.
Regelmäßig aufgestellte Warnschilder erinnern einen in ganz Skandinavien und so auch auf dieser Strecke stets daran, auf die Gefahr durch plötzlich querende Elche gefasst zu sein. Ein Zusammenstoß mit einem dieser großen, schweren Burschen wäre fatal, gerade für Motorradfahrer. Und für den Elch natürlich.
Als ich erneut an einem Kettenanlegeplatz vorbeikomme, ist klar, dass ich ab hier den Aufstieg zu einem weiteren Fjell angehe. Ich bin mir nicht sicher, ob es noch zum Sognefjell gehört, oder, was wahrscheinlicher ist, zum Jotunheimen Nationalpark. Nicht mehr durch enges kurviges Geläuf, sondern über lange Geraden und weite, lang gezogene Kurven mit erstklassigem Belag geht es stetig bergauf und die Gegend rechts und links des Weges ist wieder größtenteils von Schnee bedeckt. Aber zum Glück nicht so hoch, dass er die Sicht auf die tolle Umgebung versperren würde. Weil die Straße nicht so viel Aufmerksamkeit erfordert, wie die auf dem Sognefjell, kann ich die Landschaft viel mehr beachten und genießen. Sensationell, wie schön es hier ist. Mehr als einmal entfährt mir ein lautes »Wow!«, »Booaah!«, oder »Meine Güte ist das geil hier!«. Es ist einfach unbeschreiblich schön. Der Blick reicht weithin über hügelige Landschaften bis auf die Gipfel des Glittertind mit 2.452 Metern und des Galdhøpiggen, des mit 2.469 Metern höchsten Bergs in ganz Skandinavien.
Teils ist das Gelände schneebedeckt, teils ragen kantige Felsen aus dem mit gelbgrünen Moosen bewachsenen Boden, man sieht rauschende Bachläufe und reitet bergauf und bergab durch scheinbar ungezähmte Natur. Das alles ist kaum zu fassen.
Doch es ist kalt hier oben, ich stelle die Griffheizung auf volle Pulle, obwohl das Thermometer immer noch acht oder neun Grad anzeigt. Das fühlt deutlich kälter an. Ob ich dem Teil noch glauben kann? Im Packsack des Zeltes ist noch ein Thermometer, das werde ich morgen zum Vergleich ins Kartenfach des Tankrucksackes stecken.
Der Wind ist nicht von schlechten Eltern. Von Westen her pfeift er mit ordentlich Karacho über die Hochebene. Interessanterweise habe ich echt Mühe, mich nicht mitsamt meinem Motorrad umpusten zu lassen, wenn ich im Stand drauf sitzen bleibe. Während der Fahrt hingegen ist der Wind kein wirklich großes Problem, da zieht die RT beinahe unbeeindruckt ihre Bahn. Eine ganz neue Erfahrung ist auch, dass der starke kalte Wind während eines Halts in kürzester Zeit die Motortemperatur ungewöhnlich stark herunterkühlt. Einmal, als ich ein paar Fotos mache und mir die Regenjacke überziehe, sogar so weit, dass die Anzeige anschließend überhaupt keine Temperatur mehr meldet.
Die Abfahrt aus dieser Höhe hinunter in Richtung Lom gehört eindeutig zum Schönsten und Spektakulärsten, das ich als Motorradfahrer je gesehen habe und ich bin ehrlich dankbar dafür, dass ich das erleben darf. Wieder bieten sich mir wundervolle Aussichten und fahrerisch alles, was das Herz begehrt. Mir schlägt das Herz höher vor Glück, als ich durch die einzigartige Gegend kurve.

 

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