Hautnah - Leseprobe

Kapitel 2

Matthias: Das Memorial-Day-Wochenende begann, und wir merkten stündlich, wie sich alles füllte. Straßen, Plätze, Läden. Wurde also allerhöchste Zeit, das gemütliche Bar Harbor zu verlassen und uns weiter nordwärts zu machen. Wir räumten die Packtaschen um, um Manuelas KLR etwas leichter zu bekommen und starteten bei herrlichem Wetter.
An der Atlantikküste entlang nach Calais, dem letzten US-amerikanischen Ort. Kurz vor Calais stoppten wir und bereiteten den Grenzübertritt vor. Was uns da wohl erwarten würde? Wir kramten alle Papiere zusammen und fuhren in den Ort hinein.
Mitten in Calais trennten sich die Fahrbahnen, auf der Gegenspur sahen wir das Grenzhäuschen mit den US-Beamten. Die winkten uns direkt zu einem kanadischen Officer weiter, der freundlich aus seinem Fenster schaute. Er wollte nur wissen, wo wir herkämen, wo wir in den USA gelandet seien, wie lange wir in Kanada bleiben wollten, und ob wir ausschließlich Urlaub machen würden. Pass auf, Stempel rein, Pass zu, willkommen in Kanada.
Die ersten Meter auf kanadischen Straßen. Ein Schild mit der Zahl 50 kam in Sicht. Waren das nun Kilometer oder Meilen? Hätten wir uns mal besser vorbereiten sollen. Sicherheitshalber hielten wir uns an den niedrigeren Wert, Kilometer pro Stunde, und ein paar Minuten später kam eine Hinweistafel: Kanada misst in Kilometern. Jetzt hieß es, die Meilen-Gewohnheit zu vergessen und sich schnellstens auf Kilometer umzustellen.
Bis Saint John waren es noch etwas über 100 Kilometer, die Fähre würde morgens um neun Uhr abfahren. Also machten wir uns keinen Stress und nahmen auf halber Strecke ein Motel. Der Seafood-Imbiss nebenan war wohl eine Art Biker-Treff, denn plötzlich kamen mehr und mehr Motorräder angerollt, hauptsächlich Harleys. Binnen Minuten war ein Gespräch im Gang. Unsere KLR wurden ausführlich begutachtet, man plauderte über die Gegend, über Motorräder und über alles Mögliche.
In Kanada, so erfuhren wir, kostet eine Harley-Davidson kaum mehr als ein Japan-Cruiser. Wenn das mein Freund wüsste, der sich in Deutschland gerade mit viel Mühe eine alte Harley aufbaute.

Manuela: Die morgendliche Packerei artete bei mir noch immer in Stress aus. Blödes deutsches Pünktlichkeitsdenken. Wenn man die Check-Out-Zeit mal überzieht, interessiert das hier keinen. Ich musste noch viel gelassener werden. Dafür machte das Motorradfahren heute sehr viel Spaß. Das Wetter war herrlich, nicht zu warm und nicht zu kalt. Mein Gepäck war schön leicht, und alles war gut. Fast alles. Denn mein Bauch rumorte gewaltig, bis auf ein paar Kekse wollte einfach nichts rein. Wahrscheinlich lag die leichte Verstimmung an den überall gegenwärtigen eiskalten Getränken.
Wir fuhren auf der Route 1 an der Küste von Maine nach Norden, als vor uns ein großes blinkendes Schild auftauchte. „Roadworks next 8 miles“. Dann folgten 13 Kilometer loser Schotter und Rollsplit. Im ersten Moment dachte ich an Anhalten und Absteigen. Dann biss ich die Zähne zusammen und war ein bisschen stolz, als ich den rettenden Asphalt wieder unter den Reifen hatte.
Trostlose Gegenden wechselten sich ab mit herrlichen Landstrichen, Wäldern, Gänsen auf dem Wasser und Ausblicken auf die Küste.
An der Grenze fragte mich der Officer, ob das da auf meinem Motorrad Offroad-Reifen seien und ob ich gerne off?road fahren würde. „Oh, ich hasse es“, antwortete ich, der Officer lachte und meinte, wir sollten auf den Straßen bleiben. „Have a save trip.“

Matthias: Heute Morgen empfing uns Kanada mit fetten Nebelschwaden, Nieselregen und fünf Grad. Brrrrrrr. Wir sattelten die Motorräder und spulten die paar Kilometer bis Saint John ab. Wenn die dicke Suppe unterwegs mal aufriss, sah man ringsum nur Wald, nichts als Wald. Und Schilder mit der Warnung vor Elchen und den Folgen eines Zusammenstoßes.
Auf dem Highway kamen uns zwei halbe Häuser entgegen. Sie werden irgendwo wieder zusammengeschraubt – die amerikanische Art des Umzuges.
In Saint John direkt zum Hafen, Tickets für den nächsten Tag gekauft und ein Motel mit Heizung gesucht, um die durchfrorenen Knochen aufzuwärmen.
Im Weather Channel hatten wir gestern bemerkt, dass die TV-Uhr eine Stunde weiter war als unsere. Wir nahmen an, dass der Aufzeichnungsort wohl in einer anderen Zeitzone liegen würde. Heute Morgen dasselbe Spiel: Der Radiowecker zeigte eine andere Zeit an. Da konnte etwas nicht stimmen. Nachfrage an der Motel-Rezeption. Des Rätsels Lösung: Kanada ist eine Stunde früher dran als die USA. Gut zu wissen, sonst hätten wir morgen früh garantiert die Fähre verpasst. Man könnte natürlich auch mal etwas genauer in die Landkarte schauen. Aber wenn man immer nur das eine, in den Tankrucksack passende Planquadrat betrachtet, fällt so eine dünne Zeitzonenlinie kaum auf.
Mein Zeckenbiss heilte übrigens gut ab und sah jetzt nur noch aus wie ein Mückenstich. Im „Atlantic Superstore“ kauften wir bei Nebel und Fieselregen das Abendessen ein und lernten „Crabmeat“, Krebsfleisch, kennen und lieben.

Die letzte Nacht hatte ich nicht sonderlich gut geschlafen. Doch als um sechs Uhr der Wecker klingelte, war ich hellwach: Da hatte doch jemand Landschaft vors Fenster gezaubert. So richtig mit Wald und Ozean. Pünktlich waren wir an der Fähre und durften uns ganz nach vorn vor die RVs stellen. Ein RV ist ein „Recreation Vehicle“, ein Erholungsfahrzeug – ein Wohnmobil.
Wir holten unsere Boarding Cards und ließen die Blicke über die Fundy Bay schweifen. „Seht ihr die beiden Hirsche draußen im Meer schwimmen?“, sprach uns ein Typ an. Schwimmende Hirsche? Wollte der uns veralbern? Nein, denn wir konnten tatsächlich zwei sich bewegende dunkle Punkte im Wasser erkennen. Unfassbar, dass Hirsche schwimmen können. Und das mit diesen dünnen Beinen und fast ohne Schwanz.
Das Boarding begann, und wir gingen zu den Motorrädern zurück. Als Erste rollten die Trucks in den Bauch der Fähre. Währenddessen hatten die Hirsche den Strand erreicht.
Dann wurden wir ganz vorn vor einen riesigen Truck dirigiert. Man warf uns ein paar Stricke zu, mit denen wir die Motorräder verzurrten. Dank der Erfahrung unserer Schottlandreisen klappte das ganz gut, die Kawas standen gut geschützt und bombenfest. Hier unten im Autodeck roch es nach abgestandener Fischbrühe und altem Öl. Also nichts wie nach oben an die frische Luft.

Die drei Stunden Fährfahrt von Saint John nach Digby gingen schnell vorüber, wir lagen auf dem obersten Deck auf den Bänken und schauten in den blauen Himmel.
Nachdem wir das Fährschiff verlassen hatten und über eine grobgefächerte Gitterbrücke gefahren waren, ließen wir erst einmal alle Trucks und RVs vorbei, bevor wir gemütlich in Richtung Yarmouth tuckerten. Kurz vor Digby stand die Nova Scotia-Touristeninformation, wo wir uns mit Infomaterial eindeckten und den „Motorcycle Guide Nova Scotia“ bekamen – ein tolles Buch von Motorradfahrern für Motorradfahrer. Sofort setzten wir uns vor der Information auf eine Bank und durchblätterten den Band. Ein Bild zeigte den „Balancing Rock“. (Der Balancing Rock (balancierender Felsen) ist eine rund vier Meter hohe Basaltsäule, die kurioserweise nur zur Hälfte auf einem Felsen aufliegt, seit Jahrhunderten allen Einflüssen widersteht und nicht umfällt.) Klare Sache: Da mussten wir hin. So änderten wir kurzerhand die angedachte Route und bogen in das Digby Neck ab, eine schmale Landzunge, der noch die beiden kleinen Inseln Long Island und Brier Island folgen. Der Campingplatz in Whale Cove sollte die Basis für die nächsten Tage und Nächte sein.
Dort angekommen, dachten wir zuerst, der Platz wäre noch geschlossen. Aber nein: Vorsaison. Wieder mal. Vaughn, der Chef, hieß uns herzlich willkommen und zeigte uns einen großen Pavillon mit einer vor Wind und Wetter geschützten Tischgruppe. Das Zelt postierten wir daneben, und kurze Zeit später kam Vaughn mit seinem kleinen Traktor und brachte die Moskitonetze für den Pavillon sowie einen „Rolling fire place“: Eine ausgediente Waschtrommel auf einem ausgedienten Rasenmäherunterteil, zur Hälfte mit Sand gefüllt – fertig ist das fahrbare Lagerfeuer. Eine tolle Idee, die ich mir sofort ins Reisetagebuch skizzierte.
Nach Spaghetti mit Tomatensoße widmeten wir uns erneut dem Motorcycle Guide und erfuhren, dass „Nova Scotia roadplanners must have been motorcyclists.“ Nova Scotias Straßenplaner waren also Motorradfahrer. Na, wenn das mal keine Ansage ist.

 

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