Himalaya & Co. - Leseprobe

Kapitel 10: Kambodscha

Der Norden
Einige hundert Meter weiter die kambodschanische Hütte, wieder wandert ein US-Dollar »Stempelgebühr« über den Tisch, und schon sind wir drin. Weniger gut ist die strikte Weigerung der kambodschanischen Zöllner, uns ein Importpapier für das Motorrad auszustellen. Das ist dumm. Wer weiß, wie die Grenzer bei der Ausreise nach Thailand auf die fehlenden Papiere reagieren werden? Das Problem hatten wir ja schon vor ein paar Wochen. Was hilft es, wir haben keine Wahl und müssen es einfach mal wieder darauf ankommen lassen.
Gerade wollen wir starten, als eine alte Yamaha Ténéré aus dem Dschungel bricht. Chris Carlson, ein Australier, hat sich bei der Suche nach der Grenze verirrt und querfeldein die Grenze überquert, ohne es zu bemerken. Die Zöllner reagieren gelassen darauf, anscheinend passiert das hier nicht zum ersten Mal. Zu viert geht es auf der einzigen Piste weiter bis ins 70 Kilometer entfernte Stung Treng. Die Strecke lässt sich gut fahren. Grober, reifenfressender Asphalt wechselt alle paar Kilometer mit herrlich breitem Schotter. Da Kambodscha überwiegend auf Meereshöhe liegt, kann der Blick weit schweifen.
Kurz vor der Stadt muss ein weiteres Mal der Mekong per Fähre überquert werden. Das dauert, denn wegen einer Handvoll Autos und drei Motorrädern kommt der Fährmann noch lange nicht von der anderen Seite herüber. Da müssen schon noch ein paar Fahrzeuge mehr auftauchen. Zeit für ein Gespräch mit Chris. Seit knapp einem Jahr fährt er von England über Land nach Australien zurück. In sechs Wochen will er dort sein, zuvor aber noch Kambodscha, Malaysia und die indonesische Inselkette besuchen. Ein strammes Programm.
Freds Wutschrei unterbricht die Plauderei – sein Hinterreifen ist platt. Aufpumpen bringt nichts, der Reifen bleibt platt. Auf der anderen Mekongseite angekommen, suchen wir einen Reifenflicker, die es in Asien Gott sei Dank an jeder Ecke gibt. Fred baut das Rad aus, der Reifenflicker findet schnell die Ursache: Der indische Hinterreifen war offensichtlich dem Gewicht der BMW R 100 GS nicht gewachsen und erlitt einen Karkassenbruch. In diesen Riss rutschte der Schlauch und wurde aufgerieben. Flink schneidet der Vulkaniseur einen Gummiflicken zurecht und legt ihn mitsamt der betroffenen Schlauchstelle unter eine »Presse«. Die Presse ist eine Schraubzwingenkonstruktion, der Presskopf ein ausgedienter Kolben. In die Höhlung des Kolbens kommt eine brennbare Flüssigkeit. Dann wird die Konstruktion zusammengequetscht, die Flüssigkeit entzündet und gewartet, bis die Flamme wieder ausgeht. Ist alles abgekühlt, wird die Konstruktion geöffnet. Ergebnis: Der Gummiflicken ist völlig mit dem Schlauch verschmolzen. Wir sind begeistert.
Weiter nach Kratie, eine Stadt direkt am Mekong. Dank Evas und Ralfs GPS-Koordinaten finden wir schnell das von ihnen empfohlene Hotel. Fred muss noch mal ran, denn der Reifen ist schon wieder platt. Der Flicker hat zwar einen halben Schlauch über die defekte Reifenstelle gelegt, aber nicht dafür gesorgt, dass er auch dort liegen bleibt. So ist an der gleichen Stelle ein neues Loch entstanden, wovon Fred nicht gerade begeistert ist.
Verkehrshorror
Um von Kratie nach Phnom Penh zu gelangen, gibt es zwei Möglichkeiten: Eine direkte, aber schwierige Erdpiste am Mekong entlang oder eine landschaftlich schöne, 80 Kilometer längere Asphaltstrecke über die Route 7. Wir entscheiden uns gerne für den Umweg. Fred wegen seines maladen Reifens und wir wegen unseres hohen Gewichts. Der Entschluss erweist sich als goldrichtig – die Straße ist in gutem Zustand, durchgehend asphaltiert und führt durch herrliche Landschaften, fernab von Städten. Immer wieder müssen wir uralte Holzbrücken überqueren.
20 Kilometer vor der Zwei-Millionen-Hauptstadt ist die Idylle schlagartig vorbei. Der Monsun ruft sich mit schweren Gewittern und heftigen Platzregen in Erinnerung. Der Verkehr wird zunehmend stärker, die Straße immer schmaler, die Vororte quellen förmlich auf die Strecke.
Der Verkehr ist bisher der schlimmste auf unserer Reise: Als gäbe es kein Morgen, wird gefahren auf Teufel komm raus. Ständig schieben sich dicke chinesische Geländewagen neben uns, um besser gaffen zu können. Kommt der Gegenverkehr zu nahe, werden wir einfach abgedrängt. Auf diese Weise sind wir gezwungen, so schnell zu fahren, dass uns möglichst niemand überholt. Was wiederum bedeutet, dass wir überraschend auftauchenden Hindernissen kaum noch ausweichen zu können. Das kostet Nerven.
Die Straße gleicht mittlerweile einer Schlammwüste, der Himmel ist tief schwarz, die Sicht geht gegen null. Im zweiten Gang rollen wir vorsichtig über eine schmale, bucklige Brücke, der Gegenverkehr rast heran, ignoriert uns komplett, und nur ganz knapp kommen wir nicht unter die Räder. Hinter der Brücke wurde die beträchtliche Höhendifferenz mit reinem Lehm aufgefüllt. Das funktioniert, wenn es trocken ist. Jetzt bei Regen wird der Lehm jedoch zu Glatteis. Schlagartig verliert das Vorderrad den Grip, wir schlittern eher zufällig geradeaus und kommen kreidebleich im Gesicht am Straßenrand zum Stehen. So geht das nicht weiter. Über eine Stunde warten wir auf eine Wetteränderung, doch es wird und wird nicht besser. Mittlerweile ist es Abend geworden und stockfinster. Straßenbeleuchtung gibt es nicht. Aber wir müssen weiter. Langsam und vorsichtig tasten wir uns Richtung Stadt vor. Dank der Löther’schen GPS-Koordinaten finden wir bei Ankunft wenigstens schnell eine Unterkunft.

Phnom Penh
Phnom Penh im Tageslicht und ohne Regen entschädigt. Die Promenade am Mekong ist üppig und feudal angelegt. Soll wohl dem majestätischen Auge schmeicheln, liegt der Königspalast als repräsentativer Sitz der konstitutionellen Monarchie doch nur wenige hundert Meter vom Ufer entfernt. Eine Besichtigung der Palastanlage ist zwar möglich, jedoch enttäuschend, da die meisten Gebäude von einem »Eintritt verboten«-Schild verteidigt werden. Weil Fred dringend einen neuen Hinterreifen braucht, verbringen wir einen ganzen Tag damit, gemeinsam von Mopedbude zu Mopedbude zu ziehen. Doch mit Reifen für große Motorräder sieht es schlecht aus. Erst am späten Abend findet sich ein Hinterhofschrauber, der ein paar davon am Lager hat.
Kein Besuch der kambodschanischen Hauptstadt wäre komplett, wenn man sich nicht auch mit der dunklen Vergangenheit der noch jungen Monarchie auseinandersetzen würde, die die Unabhängigkeit von Frankreich erst 1953 erlangte. »Toul Sleng« oder schlicht »S 21« nannten die Roten Khmer unter der Führung des Diktators Pol Pot das größte und gefürchtetste Gefängnis des Landes. In der ehemaligen Schule wurden unter brutaler Folter Geständnisse erzwungen. Überlebende gab es kaum. Wer nicht ohnehin irgendwann an den Stadtrand zu den Massengräbern, den »Killing Fields«, transportiert und hingerichtet wurde, der hatte kaum eine Chance, die unmenschlichen Lebensbedingungen im Gefängnis zu überleben.
Ein ganzes Land lebte über Jahre mit der permanenten Angst, von der Straße weg inhaftiert zu werden. Mitunter reichte bereits ein gut genährtes Aussehen für eine Verhaftung, da man unterstellt bekam, diesen Überfluss an Nahrungsmitteln nur auf unredliche Weise beschafft haben zu können. Familien wurden systematisch getrennt und die gesamte Elite des Landes ausgerottet. Erst 1979 fand der Wahnsinn ein Ende und Pol Pot wurde gestürzt. Kambodscha jedoch war am Boden zerstört.
Es ist bewegend mitanzusehen, wie viele Einheimischen Blumen dabei haben und mit Tränen in den Augen fassungslos durch die fürchterliche Dauerausstellung schreiten. Unbeteiligte Kambodschaner gibt es kaum, schließlich ist die Schreckensherrschaft noch keine 30 Jahre her. Nachdenklich und tief berührt verlassen wir die Stadt Richtung Norden. Fred will noch ein wenig bleiben und später hinunter zur Südküste fahren.

Der Route 5 folgend, gelangen wir auf eine Fähre über den Mekong. Ein Großteil des Verkehrs von West nach Ost wird hier übergesetzt, denn die nächste Brücke ist fern. Einige Frauen balancieren diverse kambodschanische Köstlichkeiten virtuos auf dem Kopf. Neben den beliebten frittierten Hühnerfüßen gibt es fermentierte Spinnen, Käfer jeder Art und Größe, sowie Fleischstückchen unklarer Herkunft und Zubereitungsart.
Die wahre Attraktion des Tages sind aber eindeutig wir, denn Touristen verirren sich hier nur sehr selten her. Schnell sind wir von Interessierten umlagert, alle wollen das Motorrad, die Kisten, die Packsäcke anfassen und auf den Protektoren unserer Motorradanzüge und auf den Helmen herumklopfen. Sofort wird das sagenhafte Erlebnis lautstark an alle anderen weitergegeben. Ein Gefühl wie ihm tiefsten Afrika. Englisch spricht niemand. Für die Überfahrt bezahlen wir ebensoso viel wie alle anderen Passagieren: ganze 600 Riel, ca. 12 Cent.
Die weitere Strecke nach Siam Reap führt über plattes Land, die Straße ist in gutem Zustand, die Menschen sind freundlich und winken. Ein entspannter Fahrtag. Kurz vor der Ankunft ein besonderer Moment: Die Twin wird 100.000 Kilometer alt. Selbstverständlich halten wir an und feiern den historischen Moment mangels Alternative mit brühwarmem Mineralwasser.

Angkor Wat
Siam Reap ist die 150.000-Einwohner-Stadt bei Angkor Wat. Angkor Wat zählt zu den Weltwundern und ist die größte religiöse Stätte der Welt. Dabei ist die Bezeichnung »Angkor Wat« eigentlich nur der Name des zentralen Haupttempels. Daneben gibt es noch unzählige andere. Manche sind bis zu 60 Kilometer entfernt und durch den dichten Dschungel nur schwer erreichbar. Berühmt ist die Anlage unter anderem wegen ihrer von Baumriesen überwachsenen Tempel. Indiana Jones und auch die Lara-Croft-Filmer haben diese einzigartige Kulisse gerne als Hintergrund genutzt. Wir fahren mit dem eigenen Motorrad durch diese unwirkliche Tempelwelt und sind von der mystischen Schönheit und besonderen Atmosphäre überwältigt. Ein großartiges Gefühl. Zwar nicht ganz so intensiv wie am Uluru im australischen Outback, aber schon ungefähr diese Liga. Immer wieder entdecken wir mitten im Dschungel in Stein gehauene, monumentale Gesichter. Manchmal ist es möglich, auf kleinsten Wandertreks die gigantischen viereckigen Außenmauern der Anlagen zu umfahren.
Viele Eindrücke und dankbar, hier gewesen zu sein, verlassen wir einige Tage später Siam Reap in westlicher Richtung. Was folgt ist die bisher schlimmste Strecke unserer Reise. Die 150 Kilometer bis zur thailändischen Grenze haben es in sich. Das erste Stück ist noch asphaltiert, doch so durchlöchert und zerfurcht, dass wir dem voll beladenen Motorrad nicht mehr als 40 Stundenkilometer antun. Danach folgt Piste. Der Schnitt geht noch weiter in den Keller, denn immer wieder tun sich riesige Löcher auf, die das Potenzial haben, die Felgen zu zerdeppern. Fünf Stunden dauert die Tortur. Rechnerisch macht das einen Schnitt von 30 Kilometern pro Stunde.
Unverständlich, weshalb die bei weitem wichtigste Handelsroute zwischen Kambodscha und dem nahen Bangkok in so einem katastrophalen Zustand ist. Das Rätsel löst sich, als wir erfahren, dass sich ein ranghoher kambodschanischer Politiker ungeniert von einer Fluglinie schmieren lässt, die verständlicherweise kein Interesse an einer Erneuerung der Straße hat.
Völlig verdreckt laufen wir im Grenzort Poipet ein. Das Kaff gibt uns den Rest: Etwas Schäbigeres haben wir noch nie gesehen, die geplante Übernachtung fällt flach.
Also auf ein Neues. Thailand, die Zweite. Mit erhöhtem Puls und feuchten Händen. Was wird der kambodschanische Zoll sagen, dass wir keine Importpapiere für das Motorrad haben? Ob das Passieren der Grenze wieder so glimpflich ablaufen wird wie neulich bei der Einreise nach Thailand? Als unsere Pässe mit dem Ausreisestempel versehen sind, entdecke ich einen schmalen Pfad für die einheimischen Karren und Radfahrer neben dem Zollhäuschen. Ich wittere unsere Chance. Tanja steigt auf, ich gebe Gas, und die Africa Twin macht einen Satz hinüber zur thailändischen Seite. Geschafft! Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass man sich auf kambodschanischer Seite nicht einmal aus dem Zollhäuschen bequemt hat. Die »gewagte« Aktion war also umsonst.

 

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