Zauber des Orients - Leseprobe

Kapitel 10: Auf der Seidenstraße

Von der alten Stadt Chiwa an der Seidenstraße trennen uns nur noch einige Kilometer Wüste, der Fluss Amu Darya und die Stadt Urgench. Den Fluss überqueren wir auf einer alten Ponton-Brücke, auf der ein betagter Lkw vor uns hertuckert. Meine Ungeduld und das daraus resultierende Überholmanöver werden mir fast zum Verhängnis. Erst im allerletzten Moment erkenne ich die mehr als einen halben Meter hohe Stufe. Mit seinem Gewicht drückt der beladene Lkw die einzelnen Teile der Schwimmbrücke tief ins Wasser. Der Höhenunterschied zum nächsten Ponton ist jedes Mal gravierend. Gerade noch rechtzeitig bekomme ich die F 650 vor einem solchen Absatz zum Stehen.
Diese Schrecksekunde habe ich erst in Urgench überwunden. Die Stadt mit ihren 150.000 Einwohnern und ihrem dichten Verkehr verlangt Aufmerksamkeit. Wir wühlen uns durch das rußende Blech, das die Straßen verstopft und suchen verzweifelt nach dem richtigen Weg. Denn auch in Urgench wird noch die alte sozialistische Tradition gepflegt, nichts auszuschildern. Also machen wir es wie die Segler. Wir kreuzen durch die Stadt, bis wir endlich die richtige Ausfallstraße gefunden haben.
Kurz darauf stehen wir vor der mächtigen, mit Zinnen gekrönten Mauer der Altstadt. Chiwa, Buchara, Samarkand, diese Namen bringen heute noch die Phantasie in Wallung. Chiwa ist die kleinste dieser alten Städte, aber auch diejenige, in der der alte Geist der Seidenstraße noch intensiv lebt. Der Legende nach hatte Sem, der älteste Sohn Noahs, an der Stelle, wo heute die Altstadt steht, nach Wasser gegraben und war fündig geworden. Nach und nach wurde aus einer Ansammlung kleiner Behausungen eine der bedeutendsten Städte an der Seidenstraße. Mit all den Medresen (Koranschulen), Minaretten, Palästen ist Chiwa bis heute ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
Der Tag hat geschlaucht, darum halten wir uns auch nicht lange mit der Suche nach einem Quartier auf. Wir nehmen die erste Unterkunft, die im Reiseführer angegeben ist. An einem kleinen Kiosk vor dem Westtor fragen wir nach dem Hotel Mircoboshi. Der Mann greift zum Telefon. Das Gespräch dauert nur wenige Sekunden, dann bittet er uns zu warten. Kurz darauf erscheint ein weiterer Mann. „Mircoboshi?“ Claudia nickt. „Follow me”, weist er uns an und spurtet los. Eine Minute später stehen wir mit unseren Motorrädern in einer anderen Welt. Wir sind mitten in Ischtan Kale, der Altstadt von Chiwa. Es würde mich nicht wundern, wenn in diesem Augenblick eine mit Waren beladene Kamel-Karawane an uns vorbeizöge. Eigentlich rechne ich fest damit.
„Welcome to my house,“ werden wir von einem Mann in den besten Jahren begrüßt. Er stellt sich als Raschid vor und ist der Inhaber des Hostels. Raschid bittet uns herein, um die Formalitäten zu klären. Wir sitzen in einem winzigen Innenhof, in dessen Mitte ein schattenspendender Baum steht. Es gibt Tschai, der uns über die Erledigung der Formalitäten hinweghelfen soll. Die Nummern unserer Reisepässe notiert er sorgsam in einem kleinen Buch. Unsere Namen, Adresse und die Kennzeichen der Motorräder werden auf einem Zettel vermerkt. Zwischendurch erzählt uns Raschid immer wieder von seinem Haus. Dass es mehr als 300 Jahre alt sei, dass er es in einem völlig verwahrlosten Zustand übernommen und zum Hostel umgebaut habe und nun auf mehr Tourismus hoffe. Dass sich diese Hoffnung längst erfüllt hat, erfahren wir in einem weiteren Satz: Das Haus sei ausgebucht, kein Zimmer mehr frei, gesteht er uns mit sorgenvoller Miene. Warum dann diese ganze bürokratische Zeremonie? Während die Frage in meinem Kopf gerade Fahrt aufnehmen will, ist Raschids besorgter Gesichtausdruck einem breiten Grinsen gewichen. Er habe noch ein Haus, einige Straßen weiter, die Lage sei ruhiger, die Motorräder stünden sicher im Innenhof, Dusche auf dem Zimmer und – es gebe Aircondition. Alles bestechende Argumente, die den Aufpreis von drei Dollar pro Kopf am Tag rechtfertigen. Raschid scheint ein Spaßvogel zu sein, der gerne mal seine Gäste mit einem Scherz auf den Arm nimmt.

Chiwa tut uns gut. Es entspannt. Wir genießen es, die Nächte in kühler Umgebung zu verbringen und geben uns tagsüber ganz Raschids Fürsorge hin. Sitzen oft im kleinen Innenhof seines Hauses, das gleich neben dem Kalta Menar steht, dem kleinen Minarett, einem der vielen Wahrzeichen von Chiwa. Diese Stadt hat uns in Haft genommen und will uns nun nicht mehr ziehen lassen. Bis heute haben die dicken Mauern rund um den alten Kern Ischtan Kale vor zu viel Neuem bewahrt, und fast scheint es so, als wolle die Gegenwart einfach nicht durch eines der vier großen Stadttore passen. Die vielen Medresen, Moscheen und Minarette bezeugen die tiefe Religiosität der Menschen. Zu den beeindruckendsten Bauwerken zählt die Dschuma Moschee, sie fällt nicht auf durch Größe und Glanz, wie die vielen Medresen und sie herum. Sie wirkt klein und gedrungen, auch das Innenleben dieser Moschee ist schmucklos – auf den ersten Blick. Es ist die Unendlichkeit der Halle. Das Dach wird gestützt von 213 Säulen aus filigran verziertem Holz, die so angeordnet wurden, dass sie den Raum endlos erscheinen lassen. Einigen dieser Säulen haben Wissenschaftler eine fast 1.000-jährige Existenz bescheinigt. Chiwas Altstadt ist voll von architektonischen Schätzen der Vergangenheit, dennoch ist sie – Gott sei Dank – kein Museum.
Der Ort dämmert zwar bis heute in der Vergangenheit, aber zwischen den alten Mauern pulsiert Leben. Menschen wohnen in den Häusern und machen sich die Anziehungskraft der alten Stadt zunutze. Wer will es ihnen verdenken? Die meisten Einwohner leben irgendwie von den Touristen. Verkaufen Souvenirs, vermieten Unterkünfte oder arbeiten als Tourguides, die Möglichkeiten sind vielfältig und manchmal für den Besucher nicht angenehm. Zumindest für den, der nicht lange in der Stadt verweilt. Wir müssen die Offerten, die unser Dasein in der Stadt kulturell bereichern sollen, zwei Tage über uns ergehen lassen. Danach wird aus „Hello Mister, have a look“ ein freundliches „Salam Maleikum! How are you?“. Es hat sich herumgesprochen, dass wir unseren Bedarf an Souvenirs gedeckt haben. Auch auf dem Basar sind wir keine Unbekannten mehr. Die Popularität dort beruht jedoch mehr auf unserer Suche nach weichem Toilettenpapier. Die Verwendung zentralasiatischer Ausführungen dieses Sanitärartikels ist auf Grund des Härtegrades, der zwischen Baumrinde und Schmirgelpapier liegt, stets mit unangenehmen Nebenwirkungen verbunden. Die Nachfrage nach der soften Version führt unter den Händlern stets zu erhöhter Heiterkeit, und wo immer es sich anbietet, lassen sie auch die Kundschaft an ihren Scherzen über uns teilhaben. Irgendwann werden wir fündig, aber auch noch Tage danach sorgt unsere Anwesenheit auf dem Basar für eine ausgelassene Stimmung, in der sich jedoch stets viel Herzlichkeit findet.
Zweimal verschieben wir unsere Abfahrt. Zum Schluss notgedrungen. Das Geld ist alle. Es reicht noch, um Raschid auszuzahlen, aber das Benzin für die Fahrt nach Buchara ist nicht mehr drin. Wir müssen zur Bank, und das ist in Usbekistan immer eine Herausforderung. Es ist das erste Mal, dass wir uns außerhalb der Mauern der Altstadt in Chiwa bewegen. Wir suchen ein Geldinstitut mit vertrauenserweckender Fassade. Es gibt sogar ein Schild mit Öffnungszeiten. Von 12.30 Uhr bis 14.00 Uhr geschlossen, ist da zu lesen. Da es gerade 10 Minuten nach 12.00 Uhr ist, sollte es also passen. Wir haben die Klinke der Tür noch nicht in der Hand, schon springt uns ein Wachmann entgegen. Deutet mit seinem Finger unentwegt auf seine Armbanduhr und auf das Schild mit den Öffnungszeiten. Nach dem orientalischen Zeitgefühl werden die Pausen immer etwas großzügiger ausgelegt. Erst ab 14.00 Uhr haben wir wieder die Chance auf Bares.
Wir vertreiben uns die Zeit in einem Park. Trinken Cola für umgerechnet 20 Cent die Flasche, gönnen uns jeder ein Eis, schlendern durch die Stadt und sehnen 14.00 Uhr herbei. Pünktlich stehen wir wieder vor der Bank, doch die Tür bleibt verschlossen. 20 Minuten später hoffen fünf weitere Herren auf Einlass. Durch die Glasscheibe der Tür sind Menschen in der Bank zu erkennen, die es aber nicht eilig damit haben, ihre Pause zu beenden. Es wird Zeit zum Handeln. Durch das Türfenster habe ich auf der anderen Seite des Schalterraumes eine offene Tür gesehen. Das ist die Schwachstelle, und ich mache mich auf, diese Schwachstelle auszunutzen.
Etwas zaghaft betrete ich den Schalterraum von der anderen Seite des Gebäudes. Man kann nie wissen, die Wachmänner sind mit Maschinenpistolen bewaffnet, und wenn sie mich für einen Bankräuber halten, fackeln sie bestimmt nicht lange. Meine Bedenken sind grundlos, schnell werde ich entdeckt, als potentieller Kunde erkannt und damit als Störenfried. Derselbe Wachmann, der uns schon um kurz nach 12.00 Uhr vertrieben hat, läuft auf mich zu und tippt mit seinem Finger auf die Uhr, wobei er von einem anderen Wachmann unterstützt wird, der mich mit intensiven Handbewegungen aus dem Schalterraum winkt. Ich kontere mit der gleichen Geste, in dem ich unentwegt mit dem Finger auf meine Armbanduhr tippe. Und gewinne. Die Vordertür wird aufgeschlossen. Der Angestellte hinter dem vergitterten Schalter räumt seine Butterbrote bei Seite, faltet die Zeitung sorgsam zusammen und fegt mit der Hand die Krümel zur Seite. Dann setzt er sein freundlichstes Lächeln auf und läutet mit den Worten: „Sorry, no money“, die nächste Runde ein. Ein schlecht vorbereiteter Schachzug, denn der Tresor hinter ihm steht offen, und da liegt Geld drin, und von dem will ich etwas haben. Ich zeige auf den Tresor und fordere ihn auf, 200 Dollar in Som zu wechseln. Die Knappheit an Bargeld der usbekischen Banken ist chronisch. Die Leute trauen den Instituten nicht, sie lassen ihr Geld lieber zu Hause und verstecken es dort, hatte uns Raschid erklärt und uns wenig Hoffnungen gemacht, die Dollar in Som zu tauschen. Aber diese Bank hat Soms, und die liegen nicht einmal drei Meter von mir entfernt. Wir einigen uns auf 100 Dollar, die wir tauschen können. Unserer Fahrt nach Buchara steht morgen also nichts mehr im Weg.

Es sind knappe 400 Kilometer zur zweiten Perle der Seidenstraße. Es geht durch eine endlose Landschaft. Links die unerbittliche Weite der Kysylkum Wüste, rechts der Amu Darya, auf den wir dann und wann mal einen Blick werfen können. Trotz des Stroms ist es eine lebensfeindliche Gegend. Und es lässt sich nur erahnen, welche Strapazen die Karawanen entlang der Seidenstraße auf sich genommen haben, um die Waren nach Westen zu transportieren. Dann und wann stoppt uns eine Polizeikontrolle. Die Straßenposten blättern lustlos in unseren Pässen herum, stellen einige Fragen zu den Motorrädern und lassen uns dann wieder ziehen. Die Kuppen der Medresen und Minarette glühen in der Abendsonne, als wir Buchara erreichen. Die Stadt, in der 300.000 Menschen leben, ist quirliger, viel quirliger. Chiwa wirkte verschlafen, doch Buchara ist hellwach. Wir wollen zu Mobinjon, einem kleinen Hostel im Zentrum. Dort hoffen wir, wieder auf Angela zu stoßen, mit der wir uns per Mail verabredet haben.
Die Suche nach Mobinjons Haus ist nicht einfach. Wir quetschen uns durch enge Gassen, die für Eselkarren geschaffen wurden, aber nicht für zeitgenössische Fortbewegungsmittel. Claudia muss immer wieder fragen, und nur langsam tasten wir uns an Mobinjons Haus heran. Die abgestandene Luft zwischen den Häusern brennt auf der Haut, sie laugt Körper und Geist aus. Die Sucherei beginnt ungemütlich zu werden. Der Zufall bereitet dieser Tortur ein Ende. Wir stehen wieder irgendwo zwischen den Häusern, sind desorientiert und ratlos. Ein großes Eisentor öffnet sich langsam. Ein stattlicher Kerl mit grauem Haar tritt heraus, sein Lächeln hat etwas Entspannendes. „Hostel?“, fragt der Mann. Claudia nickt. Dann schiebt er das schwere Tor weiter auf. Neben einem alten Moskwitsch steht eine Honda Dominator, auf der eine große Alukiste auf dem Gepäckträger montiert ist. Kein Zweifel – Angelas Motorrad, hier sind wir richtig, wir haben das Haus von Mobinjon gefunden. Das Poltern unserer Motoren in dem kleinen Innenhof ist Angela nicht entgangen. Die Freude über das Wiedersehen riesig. In Kurzfassung werden die Erlebnisse ausgetauscht.
Das Haus von Mobinjon war früher eine Medrese. In dem Raum, in dem wir schlafen, wurden einst Koranschüler unterrichtet. Es sei eines der ältesten Gebäude in der Stadt, wird uns vom Inhaber versichert. „Real Buchara Style“, wie es Mobinjon stolz nennt. Er ist ein netter Typ, der sich um seine Gäste sorgt. Wir werden mit Tschai, Brot und Obst verpflegt. Immer wieder fragt er nach, ob wir noch etwas brauchen. Dabei ist er nicht aufdringlich, mehr höflich und zurückhaltend, wobei das Lächeln nie sein Gesicht verlässt. Mobinjon scheint ein zufriedener und damit beneidenswerter Mann zu sein. Er hat sich mit den Gegebenheiten arrangiert, wie wir noch am selben Abend erfahren. Gemeinsam sitzen wir im Innenhof seines Hauses und genießen die warme Luft, die nach einer Dusche nicht mehr auf der Haut brennt, sondern sich in der Nacht angenehm anfühlt.
Mobinjon war einst ein sehr angesehner Mann. In den 1970er- und 1980er-Jahren gehörte er zur Sportelite, war einer der besten Sprinter der Sowjetunion und einige Male bei den Olympischen Spielen dabei, aktiv und als Trainer. Das sei vorbei, mit dem Zerfall der Sowjetunion versiegte auch das Geld für den Sport. Damals sei es ihm besser gegangen, davon zeugt noch der Moskwitsch, von Art und Größe einem Cadillac nicht unähnlich. Der wird heute nicht mehr bewegt, das Benzin sei zu teuer. Aber dafür treffe er nun Leute, die aus der ganzen Welt zu ihm in sein kleines Hostel kommen, gewinnt Mobinjon diesen Veränderungen etwas Positives ab. Aus Deutschland, Amerika, Frankreich, England, Japan – von überall her kämen sie, um Buchara anzusehen, aus seiner Sicht die schönste Stadt der Welt. Dass Buchara schön ist, davon können wir uns am nächsten Tag selbst überzeugen. Dieser Ort ist umtriebiger und orientalischer als Chiwa. Vor mehr als 2.500 Jahren haben sich auf diesem Flecken Erde Menschen niedergelassen, damit gehört Buchara mit zu den ältesten Städten auf dieser Welt. Überall Moscheen, Medresen und Paläste, monumentale Bauten, die dem Betrachter viel Ehrfurcht abringen. Wie das Minarett Kalan, eines der ältesten in Zentralasien, das mit seinen 50 Meter Höhe die Stadt beherrscht. Es gab Zeiten, da ging es Buchara richtig gut. Sherif, die Edle, wurde sie genannt und verstand zu beeindrucken. Dokumente und Berichte, aus welcher Zeit auch immer, sind voll von tiefster Bewunderung für diese Stadt.

 

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