Auf St. Pauli stirbt man zweimal - Leseprobe
Prolog
Als Pit zum ersten Mal stirbt, ist es in Hamburg früher Morgen. Selbst die Reeperbahn ist menschenleer, als er mit der Triumph zum Wasser abbiegt. Das Wasser ist die Elbe, die hier schon nach Meer riecht und für einen Fluss sowieso zu breit und zu träge daherkommt.
An einem Sonntag würden sich jetzt die Menschen drängen, um auf dem Fischmarkt einen Oginool-Hamburger-Fischverkäufer sehen zu können, der mit toten Fischen um sich wirft. Aber an diesem Tag donnert die Tiger alleine den Pepermölenbek herunter, wo irgendwann früher wahrscheinlich einmal der Bach einer Pfeffermühle entlanggeflossen war.
Pit fährt langsam, sein langes Haar flattert im Wind. Über seiner Lederjacke trägt er seine Kutte, eine Jeansjacke mit herausgetrennten Ärmeln, die aller Welt zeigt, zu welcher Rockergruppe er gehört. Er ist müde und noch ganz von dem Streit gefangen, der gerade mit Geschrei zu Ende gegangen ist.
Als er am Fischmarkt vorbeifährt, taucht hinter ihm ein großer Benz auf. Pit hat einen Rückspiegel in Form eines Eisernen Kreuzes an der Triumph, in dem sieht er nicht, wie das Fenster auf der Beifahrerseite des Benz heruntergedreht wird, und sich ein Mann aus der Öffnung zwängt. Er hört das Auto neben sich, aber er wendet ihm keinen Blick zu. Autofahrer sind Spießer, denen man keine Beachtung schenkt. Als er bemerkt, dass der Benz ihn nicht überholt, sondern neben ihm bleibt, ist es bereits zu spät.
Der Mann im Beifahrerfenster hat einen Baseballschläger aus dem Auto gezerrt und schwingt ihn über seinen Kopf wie ein Lasso. Am Ende der Kreisbewegung trifft das Holz auf den Kopf von Pit. Als der Schädel bricht, übertönt das helle Knacken des Knochens beinahe das Geräusch der Motoren. Pit stürzt und mit ihm die Triumph. Funkensprühend rutscht Metall über das Pflaster, der leblose Körper hinterher. Die Triumph schlägt mit einem Rest von Bewegungsenergie in die niedrige Mauer zwischen Hafenstraße und Elbe ein und wird still.
Pit liegt da, mit offenen Augen, aber mit starrem Blick, in einer verdrehten Haltung, für die sein Körper eigentlich nicht gemacht ist. Der Benz hat angehalten und der Mann mit dem Baseballschläger ist ausgestiegen. Seine schweren Stiefel stehen dicht vor Pits Gesicht. Möwen kreischen. Und Pit hört auf, Pit zu sein.
Kapitel 1
Manchmal hört man ja Geschichten von Leuten, die ahnen, dass am Telefon eine Schreckensnachricht überbracht wird und den Hörer abnehmen, bevor es klingelt. Mein Telefon klingelt zwar, bevor ich drangehe und „Hallo?“ sage, aber dann ist da einen kleinen Moment zu lange Stille und als eine fremde Stimme „Jan, bist du es?“ fragt, weiß ich, dass etwas passiert ist.
In den dreiundzwanzig Jahren meines Lebens ist der Tod erst einmal aufgetaucht, deshalb bin ich überfordert, als mir der Mann am anderen Ende der Leitung berichtet, meine Tante Heidi sei an einem Herzinfarkt gestorben.
Seit sich meine Eltern trennten, kümmert sich Tante Heidi um mich, so wie sie sich auch um Onkel Pit kümmert. Und jetzt ist sie tot.
Der Mann am Telefon ist der Nachbar namens Riep, der schon immer neben den beiden wohnt und mich kennt, seit ich ein kleines Kind war. Er ist am Vormittag über den Garten ins Haus gegangen, nachdem Tante Heidi nicht wie sonst jeden Morgen Onkel Pit in den Garten begleitete.
Onkel Pit ist seit einem Unfall vor vielen Jahren ein Pflegefall und kann sich schlecht selbst versorgen. Der Nachbar fand ihn in der Küche. Pit saß am Tisch und Tante Heidi lag davor auf dem Boden. Ich verspreche, sofort zu kommen und lege auf.
Dann starre ich auf das Foto an der Wand vor mir. Darauf bin ich ungefähr fünf Jahre alt und sitze auf meinem ersten Fahrrad ohne Stützräder. Die Tante hält mich mit beiden Händen auf meinen Schultern fest, sie lächelt milde in die Kamera. Tante Heidi war eine große Frau mit einem langen Gesicht, die, seit ich sie kenne, keinen Tag älter wurde. Onkel Pit steht wie üblich ein wenig abwesend daneben, aber auch er lächelt, für seine Verhältnisse sogar lebhaft. Und ich verzerre auf dem Foto das Gesicht in wildem Grinsen vor Freude über das Fahrrad. Vielleicht hat damals meine Begeisterung für Zweiräder ihren Anfang genommen.
Ich bin an diesem Freitagabend gerade erst von der Arbeit nach Hause gekommen und habe meine Motorradjacke noch nicht ausgezogen. Während ich meinen Helm hole, suche ich in mir nach dem angemessenen Gefühl für diese Situation, aber in mir ist nur ratlose Leere. Ich beeile mich, weil ich Onkel Pit beistehen möchte. Ich habe keine Ahnung, was der Tod der Tante bei ihm auslöst. Als Kind fand ich es ganz normal, dass er immer zuhause war, nicht viel sprach und oft geistesabwesend aus dem Fenster starrte. Ich spürte, dass er mich mochte und ich fühlte mich in seiner Nähe wohl. Erst später erzählte mir Tante Heidi von seinem Verkehrsunfall und benutzte das Wort Schädel-Hirn-Trauma, um mir seinen Zustand zu erklären. Während ich die Treppe herunterlaufe und zu meiner Fazer gehe, die vor dem Hauseingang geparkt ist, denke ich darüber nach, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, was ein Schädel-Hirn-Trauma ist und wie viel Onkel Pit vom Tod seiner Frau mitbekommt.
Die Fazer steht auf der anderen Straßenseite, direkt neben der ausgebrannten BMW. Seit einigen Wochen gerät in Hamburg mit ein paar Tagen Abstand eine weitere BMW in Brand und verwandelt sich, bis die Feuerwehr zur Stelle ist, meist in ein nach geschmolzenem Kunststoff riechendes, schwarzes Skelett auf verkohlten Reifen. Niemand hat den oder die Brandstifter bisher gesehen, es gibt kein Bekennerschreiben oder sonst einen Hinweis darauf, weshalb die Motorräder brennen. Nervöse BMW-Fahrer haben versucht, so etwas wie eine Bürgerwehr aufzustellen, um ihre Motorräder zu schützen, aber die Brandserie setzt sich bisher ohne Pause fort. Hamburg brütet an diesem Sommertag vor sich hin, die Bernhard-Nocht-Straße ist wie ausgestorben. Für die Touristen ist es jetzt am frühen Abend zu spät und für Kiezgänger zu früh. So stinken nur die Hundehaufen rund um meine Fazer friedlich vor sich hin.