Die Leiche im Lavendelfeld - Leseprobe

Kapitel 1

Mercy war nachtblind. Nur mit Mühe konnte sie im Dunkeln Konturen unterscheiden und wenn ihr ein Auto entgegenkam, wurde ihre Fahrt zum Blindflug. Wie jetzt beispielsweise. Zwei Xenonscheinwerfer tauchten hinter einer Kurve auf, sofort ging sie vom Gas. So ein Quatsch, schalt sie sich, halt weiter drauf, sonst kommst du nie an. Schnell drehte sie wieder am Quirl. Die Scrambler schoss nach vorn und in wenigen Sekunden hatte das entgegenkommende Fahrzeug Mercy passiert. Dunkelheit breitete sich wieder vor ihr aus.
Sie konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr sie es hasste, um zwei Uhr nachts mit dem Motorrad unterwegs zu sein. Sie fühlte sich schutzlos und verlassen, der Fahrtwind kroch kalt in jede Ritze, die ihr Motorradanzug frei gab. Trotz Temperaturen um die zwanzig Grad. Und sie sah einfach verdammt wenig. Mercy holte tief Luft. Da roch sie ihn endlich, den Lavendel. Ihr Ziel rückte näher, das Kurvenparadies mit den spektakulärsten Ausblicken Europas.
Begeistert hatte sie Anfang der Saison entdeckt, dass der Can­­­­yon du Verdon endlich einen Platz im Tourenprogramm von Bikinger & Motorowski gefunden hatte. Doch dann kam die Nachricht ihres Arbeitgebers: Nur fünf Motorradfahrer hatten sich für die Tour angemeldet, die Finanzkrise machte auch vor B & M nicht halt. Ihr Einsatz als Mechanikerin wurde gestrichen. Tourguide Julian Brandt als Betreuung musste laut Chef, so behauptete zumindest die Zentrale, genügen.
Sie hatte versucht, ihren Frust mit der Premiumedition von Kung Fu Hustle zu bewältigen. Es hatte nichts genützt. Sie hatte Shaolin Kickers nachgelegt, doch nach einer achtundachtzigminütigen Pause war die Depression wieder über sie hergefallen wie ein bisswütiger Mastiff. Schließlich erfüllte sie sich einen anderen langjährigen Wunsch, sie meldete sich zu einem Trainingscamp bei Meister Dr. Chiu Chi Ling an und übte loszulassen. Bis zu dem Moment, als Produktmanager Rainer Wuntziger bei ihr anrief und anfragte, ob sie eventuell kurzfristig einspringen könnte. Seine Firma Motal sei zum Testen der neuen Motorradbekleidungskollektion am Lac de Ste. Croix und ihr Fuhrparkbetreuer mit Schweinegrippe ausgefallen.
Das war vor sechseinhalb Stunden und 591 Kilometern gewesen. Nach einem kurzen Stück Autobahn bei Sisteron ging die restliche Strecke über beste französische Landstraße. Mercy zirkelte und zirkelte, mal rechts, mal links, mal links, mal rechts um scharfe Kurven und war heilfroh, dass so wenig Verkehr war. In La Bégude-Blanche überlegte sie, ob eine kurze Rast angebracht wäre, doch was sollte sie in diesem ausgestorbenen Ort machen? Sie wünschte sich eine heiße Schokolade und verfluchte sich selbst, weil sie nicht einmal einen Müsliriegel in der Jacke trug.
Und irgendwann, als sie schon gar nicht mehr an ein Ankommen glaubte, als sie nicht einmal mehr wusste, ob sie beim Anhalten nicht vergessen würde, ihre Beine auf den Boden zu stellen, da tauchte das Ortsschild Les Salles-sur-Verdon im Schein ihrer Motorradlampe auf.

Kapitel 2


Julian erwachte aus tiefstem Schlaf. Verwirrt fragte er sich, was ihn aus seinem schönen Traum gerissen hatte – er war auf einer Yacht in der Karibik gelegen, rechts eine schöne Blonde im Arm, links einen Cocktail in der Hand. Nein, schüttelte er den Kopf, das konnte nicht wahr sein, so etwas hatte er nicht geträumt. Solche Klischees produzierte SEIN Unterbewusstsein nicht. Er drehte sich auf die Seite, um weiterzuschlafen. Dann hörte er es wieder, das Geräusch, das seinem James-Bond-Filmabspann vor dem Ende ausgeknipst hatte: Ein Motorrad fuhr auf den Hotelparkplatz.
Er hob den Arm und schaute auf seine Uhr. Halb vier. Wer um alles in der Welt war um diese Zeit mit einer Maschine unterwegs? Von seinen Schäfchen war es keins, dessen war er sich sicher. Er hatte höchstpersönlich die Garage mit den Fahrzeugen abgesperrt. Eigentlich Mercys Aufgabe, doch sie war nicht dabei. Sie hätte sofort erkannt, welches Motorrad dort unten herumlärmte, Mercy hatte es echt drauf, sie hörte heraus, bei welchem Mondstand die Nachrüsttöpfe italienischer Vau-Zweis montiert worden waren, er konnte allenfalls eine BMW von einer Harley …
Das nächste Mal wurde Julian um halb acht von der Exotik genannten Melodie seines Handyweckers aus dem Schlaf geholt. Ohne eine Sekunde nachzudenken, zog er das Laken von seinem Körper und sprang aus dem Bett. Er griff nach einer kurzen Sporthose und zog sie über, ebenfalls ein ärmelloses, enganliegendes Shirt.
Joggen am Morgen gehörte zu seinen Lieblingsritualen. Und wie bei jeder Tourengruppe hatte er hier am Rand der Verdonschlucht versucht, seine Gäste zum Frühsport zu animieren. Und dieses Mal war es ihm sogar gelungen. Bianca und Luigi hatten sich ihm gestern angeschlossen.
Auch heute konnte er die beiden schon durch die Glasfront der Lobby sehen, wie sie sich dehnten. Dass sich Bianca als Physiotherapeutin mit Fitness und Sport auseinandersetzte, war ihr deutlich anzusehen. Locker legte sie beide Handflächen bei durchgestreckten Knien auf den Boden, dazwischen baumelte ihr Pferdeschwanz aus schwarzem, dichtem Haar. Julian lächelte. Im gleichen Moment stieß er gegen ein Hindernis.
„Morgen, Julian“, begrüßte ihn Rainer. „Wird Zeit, dass du kommst, dein Club wartet schon seit fünf Minuten. Der letzte Wein war wohl schlecht heute Nacht an der Bar …“
„Guten Morgen, Rainer“, grüßte Julian zurück. „In der Ruhe liegt die Kraft.“
„Dann hast du auch nicht unseren neuen Fuhrparkbetreuer gesehen? Wollte heute Nacht anreisen“, Rainer schaute sich um.
Julian zuckte die Achseln.
„Ah, danke, hat sich geklärt, hallo!“ Rainer hob den Arm, winkte und nickte Julian zum Abschied zu. Dieser drehte seinen Kopf, konnte aber niemanden erkennen, die Lobby war außer Rainer und ihm menschenleer.
Damit war geklärt, wer ihn heute Nacht aus dem Schlaf geholt hatte. Das war der neue Fuhrparkbetreuer dieser Kleidungsmacher von Motal gewesen, mit denen er und seine Tourengäste sich gern abends an der Bar betranken. Julian trat aus dem Hotel und sah, wie Luigi mit Bianca schäkerte. Dass er damit Erfolg hatte, bezweifelte Julian, denn Bianca zeigte eindeutiges Interesse am Motal-Trendscout Leo, während Sozialarbeiterin Andrea wiederum Luigi abends kaum von der Seite wich.
Julian nickte seinen beiden Sportfans zu und rannte los.

 

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