Schüsse am Schauinsland - Leseprobe

Die restliche Strecke bis zur Suzuki Gladius verbrachte Mercy mit Nachdenken. Sie versuchte sich an Korsika vor einem Jahr zu erinnern. Und die Menschen, die ihr dort begegnet waren. Der Einzige, der ihr zweifelsfrei einfiel, war ein Tourguide namens Moritz. Ein echter Bayer. Jeden Abend packte er sein Akkordeon aus und unterhielt die Gäste. In Porto Vecchio warb ihn der dortige Hotelbesitzer ab. Moritz führte die Tour noch zu Ende, dann war für ihn Schluss mit Bikinger & Motorowski. Manchmal, in ganz stillen Stunden, überkam Mercy so etwas wie Neid. Ihr war der Absprung nicht gelungen. Und ob das wirklich die lohnenswerte Aussicht war: den Rest des Lebens als Mechanikerin zu verbringen, konnte sie schon in Frage stellen. Auch wenn alle anderen Kollegen dachten, B & M sei ihr Leben. Das war es beileibe nicht. Ihr war nur bis jetzt nichts Besseres eingefallen. Oder sie war zu feige. Möglicherweise sogar zu feige, um darüber nachzudenken.
So über ihr Leben sinnierend passierte sie Oberried, Buchenbach, Unteribental und hätte vielleicht sogar völlig in Gedanken versunken die Gladius verpasst, wäre da nicht ein Mann gestanden und hätte gewunken.
Hektor Schorlau parkte mit seiner Harley direkt neben der Suzuki. Mercy fuhr rechts ran, machte den Motor aus und sprang aus dem Ducato.
„Was machst du hier?“, begrüßte sie Hektor.
„Ermitteln“, behauptete er, als er ihr einen Schmatz auf die Backe drückte.
„Was gibt es an der Gladius zu ermitteln?“, fragte sie weiter. „Wir haben sie doch genauestens durchsucht.“
„Die zwei Burschen mit den verkleideten Bikes sind aus der Gruppe verschwunden und da dachte ich, ich folge ihnen.“
Mercy schaute ihn an, dann den Chopper, rekapitulierte den Umstand, dass Hektor gerade erst den Führerschein gemacht hatte. Wie hätte er da Luis und Milan verfolgen wollen? Nicht den Hauch einer Chance hatte er. Doch sie war zu nett, ihn darauf aufmerksam zu machen.
„Wo sind Luis und Milan jetzt?“, fragte sie stattdessen.
„Hier nicht“, antwortete Hektor.
Mercy nickte und sah zur Suzuki. Was hatte Julian gesagt, wo der Schlüssel versteckt war? Sie wollte gerade nähertreten, als ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Sie fuhr herum und sprang gleichzeitig mit Schorlau hinter den Transporter. Sie hörte ein Bersten und Krachen. Metallteile flogen über die Straße. Mercy beobachtete, wie ein Radfahrer einem wie ein Frisbee kreiselnden Rückspiegel gerade noch ausweichen konnte, bevor dieser in den Asphalt einschlug. Verdutzt blieb der Radler auf der Stelle stehen und starrte auf den Punkt, an dem die Gladius stand oder was von ihr übrig geblieben war.
Mercy hob den Kopf, um um den Ducato herumschauen zu können. Als sie nicht erkennen konnte, was in der Parkbucht vor sich ging, stand sie vorsichtig auf. Hektor neben ihr erhob sich ebenfalls. Über der Suzi verbrannte eine Flamme das Restbenzin aus dem Tank.
„Soll’n wir lösch’n?“, fragte Schorlau. „Hast einen Feuerlöscher im Auto?“
„Das lohnt sich nimmer“, antwortete sie. „Aber was war das?“
„Das war“, erklärte ihr Schorlau, „einmal eine Suzuki.“
„Ich wusste gar nicht, dass österreichische Inspektoren zu den ganz Schlauen gehören“, murmelte sie und ging langsam näher an das Ex-Motorrad heran.
„Tun wir, werte Mercy. Da wollt’ wohl jemand auf Nummer Sicher geh’n, dass der Stick nicht g’fund’n wird. Zum Glück hab’n wir das schon, ihn g’fund’n, mein ich. Wo hast du ihn versteckt?“
Mercy klopfte sich lächelnd auf die Hosentasche und spürte, wie ihr Herz zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit aussetzte. Da war kein Stick, ihre Hosentasche war leer. In geradezu übermenschlicher Anstrengung gelang es ihr, dennoch so zu tun, als ob das Speicherteil sich genau dort befand, wo sie behauptete. „Bestens untergebracht. Hätte er oder sie nicht leichter das Schloss der Sitzbank geknackt, als hier einen Sprengsatz zu deponieren? Es hätten Personen zu Schaden kommen können.“ Sie deutete auf den Radfahrer, der immer noch dastand und starrte.
„Wenn Mensch’n immer dran denk’n würd’n, was ihre Tat’n für Konsequenz’n ham, dann würde niemand sich alkoholisiert ans Steuer setz’n oder zu schnell foahn.“
„Du willst doch nicht ernsthaft einen Sprengsatz verbauen mit erhöhter Geschwindigkeit vergleichen?“
Der Radler verfolgte ihr Gespräch mit viel Spannung.
„Selbstredend nicht. Aber es war auch nur ein kleiner Sprengsatz. So einer, der nur eine kleine Sitzbank vernicht’n tut. Und wir, wir sollt’n die Kripo ruf’n“, meinte Hektor.
Nun hatte der Radfahrer doch genug davon, den Kiebitz zu spielen. Er stieg in die Pedale und eilte davon.
„Schon wieder die Kripo. Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist“, Mercy knetete ihren Unterarm. „Immerhin werden sie nicht begeistert davon sein, dass sie das Motorrad der Toten nun nicht mehr vollständig untersuchen können. Und das, weil wir es zum Fahren verliehen haben.“ Sie erzählte von der entsprechenden Anfrage beim Berghotel.
„Was willst’ stattdessen? Des Bike einpack’n?“
„Das wäre doch eine Option.“
„Eine Option, hm? Nein, Mercy, das wäre keine Option.“ Immer wenn Hektor auf Hochdeutsch umschaltete, war Sorge angesagt. Mercy verfluchte den Moment, an dem er in das Leben von Bikinger & Motorowski getreten war. Als er in Tirol einen anderen Todesfall untersucht hatte, als er diese Reise buchen musste. Warum war er nicht in Österreich geblieben? Oder würde wenigstens Julian hinterherfahren? Warum stand er hier und vertrat bei allem, worüber sie sprachen, die gegensätzliche Meinung?
„Okay, dann rufe du Stephan an und warte auf die Kripo, während ich ins Berghotel zurückfahre“, schlug Mercy vor. Sie musste schnellstens den Stick suchen.
„Eine wunderbare Idee“, stimmte er ihr zu. Sie prüfte sein Gesicht nach irgendwelchen Ausdrücken von Ironie, sah aber nur in freundlich lächelnde Augen.
„Und wenn Milan und Luis in der Nähe sind und nur darauf warten, dass ich hier verschwinde. Dann kommen sie aus ihrem Versteck im Wald und überfallen dich?“
„Papperlapapp“, widersprach Hektor. „Es kommt niemands. Sei du froh, dass das Bike nicht in deinem Transporter stand, als die Bombe hochging. Den Rest überlass mir.“
Das ließ sich Mercy nicht zweimal sagen. Nun drückte sie Hektor einen Kuss auf die Backe, stieg ohne Gladius in ihren Ducato und verschwand. Obwohl ihr immer noch der Schreck in den Knochen steckte, war sie froh, die Gladius nicht reparieren zu müssen. Sie hatte genug andere Probleme.

 

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