Tödliche Schräglage - Leseprobe

Kapitel 1

Der Waldrand in seinem Blickfeld kippte in Schräglage. Die Fußraste bekam Bodenkontakt und drückte seinen Fuß sanft hoch. Knapp über dem Boden flog er um die Kurve, richtete das Motorrad auf und steuerte auf den kleinen Parkplatz. Er ließ die Bulldog noch ein wenig ausatmen und drehte ihr dann den Zündfunken ab.
Der heiße Motor knackte in der Stille des Waldes. Wunderbare Sommerluft lag über der Lichtung. Er kickte den Seitenständer heraus und schwang sich von der Yamaha. Gut, das war gut. Schon bei der ersten Ausfahrt des Jahres hatte er eine perfekte Motorradstrecke gefunden. Kurve um Kurve durch dieses Eifeler Wäldchen, in Einhundertachtzig-Grad-Kehren den Berg hoch und in langen, schnellen Schwüngen wieder hinunter in das Tal. Er streckte sich und ging um die Bulldog herum. Flirrende Hitze stieg von dem V-Motor auf. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte geistesabwesend in den Wald. Die Vibrationen des Motors und das Schwingen in den Kurven klangen in ihm nach.
Irgendetwas Rotes in seinem Blickfeld passte nicht zu dem Grün des Waldes. Vielleicht hatte jemand einen kaputten Plastikeimer weggeworfen. Ducati-Rot, registrierte er automatisch. Er machte einen Schritt nach vorne.
Das war kein Eimer. Er machte noch einen Schritt. Das war die Heckverkleidung einer 900 SS. Er ging langsam. Erst sah er die Sitzbank und den Tank, dann den Rest der Ducati. Sie lag auf dem Rücken, die Vordergabel unnatürlich nach hinten gedrückt. Er ging vorsichtig um das Wrack herum. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Wo war der Fahrer? Vom Vorderrad aus konnte er erkennen, wo die Ducati sich einen Weg durch das Wäldchen gepflügt hatte. Falls der Fahrer zu diesem Zeitpunkt noch darauf gesessen hatte, musste er irgendwo in der Verlängerung dieser Linie zu finden sein. Er drehte sich um und stieß beinahe gegen eine große Fichte direkt hinter sich. In Brusthöhe fehlte ein Stück Rinde und Harz perlte wie honigfarbenes Blut aus dem weißen Holz des Stammes. Zwei Schritte dahinter sah er einen Motorradstiefel. Noch einen Schritt und er sah, wem er gehört hatte. Wie viel Vergnügen dem Mann vor ihm auf dem Boden diese Frühjahrstour auch gemacht haben mochte, jetzt war er eindeutig tot.

Kapitel 2


Axel Schröder lebte seit fünf Tagen von Schoko-Müsli. Am Samstag war der Umzugswagen vorgefahren. Die Männer zeigten ihm die Liste, die er zusammen mit Renate beim Scheidungsanwalt unterschrieben hatte. Sie nahmen den Kühlschrank mit, die Einbauküche mit dem Vorratsschrank und die Mikrowelle. Zurück blieb eine Familienpackung Schoko-Müsli, die sich hinter einem Vorhang auf dem Fensterbrett versteckt hatte. Also saß er in der halbdunklen Küche auf den kalten Fliesen und frühstückte trockenes Schoko-Müsli direkt aus der Packung.
Er stand unter Schock, aber er wollte ins Präsidium. Tatsächlich war er schon früher lieber zur Arbeit gegangen, als zu lange zuhause zu bleiben. Wahrscheinlich war das irgendwann auch Renate aufgefallen. Er schüttelte die letzten Müsliflocken in sich hinein und kaute tapfer. Die Packung war leer. Zeit für einen Großeinkauf. Zeit für einen Neuanfang. Seine Schritte hallten gespenstisch durch die fast leere Wohnung. Auf dem Teppichboden im Wohnzimmer markierten Abdrücke, wo das Bücherregal gestanden hatte. Seine Schallplattensammlung verteilte sich jetzt in Stapeln entlang der Wand. Im Schlafzimmer fehlte der Schrank, seine Kleidung lag in einem wilden Haufen in der Ecke. Die Kommode hatte Renate nicht angerührt, sie hatte das alte Familienerbstück noch nie gemocht. Aber warum war das Ehebett zurückgeblieben?
Axel schlenderte durch den leeren Flur. Im Spiegel an der Garderobe stand er sich gegenüber, mittelgroß, mittelalt, blonde Haare, Seehundsblick. Er zog den Bauch ein, versuchte mit den Augen zu lächeln und nahm sich vor, sich selbst nicht Leid zu tun. Axel steckte seine Walther PK in das Holster und suchte geistesabwesend nach dem BMW-Schlüssel auf dem Schlüsselbrett. Sein letzter Blick auf Renate fiel ihm wieder ein, wie sie mit Vollgas im BMW davonfuhr. Seufzend nahm er den Schlüssel für das Wohnmobil und trat vor die Tür des Einfamilienhauses. Es war bereits warm, ein weiterer schöner Sommertag kündigte sich an. Er schwang sich in die Kabine des Wohnmobils und warf den Motor an. Der Verkehr auf der Dorfstraße war morgens so dicht wie in der Innenstadt, er musste eine Minute warten, bevor er sich in die Schlange der Pendler einreihen konnte. Auf dem Armaturenbrett blinkte hektisch eine Warnleuchte, er musste dringend tanken. Deshalb fuhr er nach wenigen hundert Metern auf die alte Dorf-Tankstelle. Eine geschwungene Beton-Muschel überspannte das Museumsstück, an der ein echter Tankwart mit einem grünen Jägerhut auf dem Kopf die Zapfsäulen bediente. Weil zu wenige Kunden dieses denkmalgeschützte Szenario zu schätzen wussten, hatte der Mann absurderweise ein Internet-Café in das Tankstellenhäuschen integriert. Ab und zu hockten Kids vor dem einsamen Computerbildschirm, aber meistens saß der Tankstellenbesitzer selbst davor und wartete auf Kundschaft.
Axel stieg aus und öffnete den Tankverschluss. Der Tankwart nickte ihm kurz zu, hantierte dann schweigend mit der Zapfpistole. Der Jägerhut war wie der förstergrüne Geländewagen neben dem Häuschen wahrscheinlich ein Hinweis auf die Jagdleidenschaft des Mannes. Axel wurde das Schweigen unbehaglich.
„Na, hat die Jagdsaison schon begonnen?“, fragte er unvermittelt den Mann neben sich. Der blickte irritiert auf und verzog dann das Gesicht zu einem schmalen Grinsen.
„Kann man so sagen, ja.“
Axel schaute den Mann aufmunternd an, aber mehr kam da nicht. Das war schon ein Kauz! Axel bezahlte und machte sich wieder auf den Weg.
Seit das Kölner Polizeipräsidium von der Innenstadt auf die andere Rheinseite umgezogen war, konnte Axel jeden Morgen entscheiden, über welche Rheinbrücke er fahren wollte. Er liebte die vier Kurven durch das Wasserwerkswäldchen auf dem Weg zur Rodenkirchener Autobahnbrücke, deshalb bog er von der Hauptstraße ab und ließ das Wohnmobil durch die Kurven schwingen. Mit dem Oberkörper legte er sich ein wenig in die Kurven und dachte an seine Honda in der Garage. Wann war er zuletzt mit der CB 750 unterwegs gewesen? Nicht im vergangenen Sommer, vielleicht noch nicht einmal im Jahr davor. Wie schon oft in den letzten Tagen nahm er sich vor, die Honda am Abend in der Garage zu besuchen.
Am Verteilerkreis zwängte er sich in die Spur für die Autobahnauffahrt und rollte mit dem allgemeinen Stau über die Rheinbrücke. Der Dom glänzte matt im Dunst des frühen Tages. Ab dem Gremberger Kreuz wurde der Verkehr dichter, das Wohnmobil zockelte im ersten Gang dahin. Immer wieder wurde Axel rechts und links von Motorradfahrern überholt, die zwischen den Spuren an ihm vorbeizogen. Das war nicht erlaubt, aber Axel hätte gerne mit ihnen getauscht.

 

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