Jakobsweg - Leseprobe

Kapitel 11: Von Pamplona nach Jaca

Dieser Tag hatte wieder einmal seinen ganz eigenen Drive. Nachdem ich ab Pamplona versuchte, exakt den Spuren des Jakobsweges zu folgen, drehte ich manche Extrarunde. Immer wieder übersah ich Hinweise oder kleine gelbe Pfeile, oder ich entschied mich, nicht dem Weg, sondern der Straße zu folgen, um nicht die Peregrines zu stören. Denn die Pilgerdichte hat sichtlich zugenommen. Jedenfalls verlor ich die Pilgerroute.
In einem Dorf fragte ich einen alten Herrn nach dem Camino, und er verwies mich auf einen Schotterweg. Dieser würde mich in einer Rechts-links-Kombination zum Camino führen. Gesagt, getan, und es klappte. Auf der Schotterpiste fuhr ich weiter und überholte einige Pilger, die keine bösen Gesten zeigten. Also weiter. Plötzlich wurde aus der Schotterpiste ein Trampelpfad am Feldesrand, alles schön matschig. Ich hielt kurz an, um zu überlegen, ob ich mir das antun wollte. Hmmm ... Sowohl die Enduro als auch ich sollten das Stück eigentlich schaffen. Gut, weiter. Nach mehreren hundert Metern in Gestrüpp und Matsch kam wieder Schotter – zum Glück.
Nach zirka zwei Kilometern verengte sich der Weg und wurde ein Trampelpfad mit Steigung. Der Untergrund steinig, teilweise Geröll. Ich gab Gas, die BMW stampfte im ersten Gang mit mir und dem Gepäck den Hang hinauf. Zwischen Ginsterbüschen führte mich dieser Trampelpfad durch Pfützen immer weiter bergauf.
Dann war Schluss. Der Weg vom Regen weggespült. Zwei Steigungen ragten vor mir auf, die zweite so steil, dass man Treppen in den Hang geschlagen hatte. Ich stieg ab und bekam die BMW die erste Steigung mit Motorunterstützung gut hochgeschoben. Jetzt die Treppen. Die waren steil, feucht, glatt und matschig. Zu viel für meine Enduro-Straßenreifen, die sich im Profil sofort zusetzten und durchdrehten.
Da stand ich nun auf den Stufen, mit einer 150 Kilogramm schweren Enduro plus 20 Kilogramm Gepäck, und kam ins Schwitzen. Was nicht kam, war der Grip. Die Fuhre wollte einfach nicht weiter. Also alles langsam retour, denn 170 Kilogramm hangabwärts zu dirigieren auf engem, glattem Pfad, ist ein Fall für sich. Und der Pannendienst wäre nicht hierher gekommen.
Mit viel Kraft und Geduld bugsierte ich die Maschine wieder auf den Weg. Ich war frustriert. Aber die Realität des Caminos ist eben so. Selbst ohne Gepäck und mit richtigen Stollenreifen wäre die Aufgabe nur mit fremder Hilfe zu schaffen gewesen. Beim Endurorennen stehen an solchen kritischen Stellen immer Helfer, um kurz mit anzupacken. Gerade wenn jemand wie ich mit solch einer Lokomotive kommt. Ungetankte 150 Kilogramm im Gelände sind ein Drittel zu viel. Die BMW ist immer noch ein Kompromiss zwischen Gelände, Alltag und Tour – sowohl vom Gewicht als auch von der Bereifung. Das wurde genau an dieser Stelle ganz deutlich.
Als der erste Frust verklungen war und der Schweiß langsam trocknete, kam die Erkenntnis, dass dieses Erlebnis typisch für den Camino ist. Er hat seine eigenen Gesetze und lehrt dich gleich in den ersten Tagen, dass die Reise nicht so läuft, wie du willst.
In diesem Moment kam der erste überholte Pilger vorbei und grüßte freundlich – auf Deutsch. Es war sein erster Tag der Wanderung, denn er war gerade aus Pamplona aufgebrochen. Tags zuvor war er von Düsseldorf über Madrid dorthin geflogen und begann jetzt seine Tour nach Santiago. Wir tauschten uns kurz aus, und ich fragte ihn, ob ihn meine Anwesenheit mit dem Motorrad gestört habe. Er verneinte. Das hätte ich nicht gedacht, denn ich fuhr zwar mit Pilgergruß an den Menschen vorbei, aber auch mit einem kleinen schlechten Gewissen.
Ein Stück weiter unten hatte ich zwei deutsche Frauen getroffen, die mich anhielten und an einer Kreuzung nach dem richtigen Weg fragten. Sie dachten, dass ein Motorradfahrer wohl ein Einheimischer sein müsse. Ich versprach ihnen zurückzukommen, sollte mein eingeschlagener Weg der falsche sein. Es war zwar der richtige, trotzdem traf ich sie noch einmal, weil ich umkehren musste.
Diese Umkehr wurde mir zur Erkenntnis. Mein Wille zählt nicht. Der Camino hat seinen eigenen Weg für mich. Diese innere Umkehr erlebte ich auch auf den anderen Pilgerreisen. Mal war es die Erkenntnis, dass die gewählten Etappen zu groß waren. Mal musste ich mir eingestehen, viel zu viel eingepackt zu haben. In den ersten Tagen kommt immer ein Aha-Erlebnis oder eine Niederlage, die aber wichtig für das weitere Fortkommen werden soll. Somit sind mir diese matschigen Erdtreppen zu Stufen der Erkenntnis geworden.
Ich fuhr zurück und kam auch noch mit den anderen überholten Pilgern ins Gespräch – alle aus Deutschland. Keiner war unfreundlich, sondern sehr verständnisvoll und verschwitzt. Das schweißt zusammen. Wahrscheinlich hatten sie Mitleid, dass hier einer tatsächlich versuchte, mit 170 Kilogramm Gewicht den Berg hochzukraxeln, während sie schon mit 10 bis 14 Kilogramm mehr als genug zu tun hatten. Offensichtlich ist man zu Fuß doch beweglicher als mit einem technischen Hilfsmittel, für das man auch noch sorgen muss. Das ist die Zwiespältigkeit der Technik.
In Puente de la Reina trank ich erst einmal einen Kaffee und besann mich auf die neue Lage. Wenn es nicht so läuft wie geplant, soll es eben anders laufen. Aber wie? Ich vertraute der Zeit, dem Kaffee und Gott. Irgendwann würde mir schon eine Idee geschenkt werden. Und plötzlich war sie da.
Da ich gut vorankam, wenn ich die Straße nahm, wollte ich die Zeit nutzen, um mir die Umgebung des Caminos genau anzuschauen. Denn wenn ich noch einmal zu Fuß diese Strecke laufen sollte, würde ich kaum die Kraft aufbringen, mir die Sehenswürdigkeiten rechts und links des Weges anzusehen. So beschloss ich umzukehren und fuhr wieder nach Nordosten, denn von den Pyrenäen hatte ich aufgrund des schlechten Wetters kaum etwas gesehen.
Ich steuerte die kleine Kapelle Santa Maria de Eunate an, einen sehr spirituellen Ort. Ich setzte mich in die Kapelle, wie in vielen Kirchen auf dem Camino lief gerade meditative Musik, und ich betete. So kam ich angenehm zur Ruhe. Dann kramte ich eine Plastiktüte mit Verpflegung aus dem Tankrucksack, setzte mich in die Sonne, betrachtete das Kirchlein von außen und aß Brot, Tomaten, Oliven und Käse. Die Welt war plötzlich wieder ganz in Ordnung.

Nach dieser Pause plante ich, auf dem Aragonischen Weg über Sangüesa nach Jaca zu fahren. Und da der Himmel heute mal nur blau war und ich nicht fror, wäre ein kleiner Höhentrip zum Somport-Pass ein schönes Schmankerl. Also fuhr ich mit der Sonne im Rücken weiter – normalerweise das Zeichen, eine falsche Richtung eingeschlagen zu haben. Aber heute und für mich war das genau die richtige. Frühnachmittags schlenderte ich durch Sangüesa, am Spätnachmittag fuhr ich durch Jaca und sah die schneebedeckten Berge des Somport-Passes. Da die Sonne weiterhin schien, musste ich nicht lange überlegen: Ich drehte am Gas und kletterte die Berge hinauf bis zur alten Grenzstation in 1.640 Meter Höhe. Nun war ich wieder in Frankreich.
Dort oben gab es ein Refugio, aber ich hatte Jaca in angenehmer Erinnerung, und mein Reiseführer empfahl einen Aufenthalt. Also wieder retour, und mit der Sonne im Herzen suchte ich ein Hotel in Jaca. Danach blieb noch genug Zeit, diese Stadt zu besichtigen. Ich war in zwei Kirchen und verspeiste eine klasse Pizza. Eigentlich hätte ich gedacht, ich würde heute Abend in Logrono sein, aber der Mensch denkt, und Gott lenkt. Wahrscheinlich lachte er sogar, als ich mich abmühte, diese schwierigen Erdstufen zu erklimmen. Irgendwie habe ich immer noch jugendlichen Ehrgeiz in mir. Zum Glück auch schon die Reife des Alters, die weiß, wann es besser ist umzukehren. Vielleicht ist es ja auch gut so, dass es ausprobiert ist und feststeht, dass der Camino selbst mit einer Enduro unbezwingbar ist. Die Grenzen sind gesetzt.
Diese Grenzen schützen vor zu viel Motorradverkehr auf dem Camino. Einzig einige Passagen des Jakobsweges sind befahrbar und werden sowohl von heimischen Enduristen gerne genutzt als auch von Bauern, um das Vieh zu treiben. Da sollte man aufpassen, dass man nicht wie ein Ochse vor dem Berge steht. Bon Camino!

 

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